VfB Stuttgart - Eintracht Frankfurt |
Bundesliga 1974/1975 - 30. Spieltag
3:4 (1:1)
Termin: Sa 10.05.1975, 15:30 Uhr
Zuschauer: 23.000
Schiedsrichter: Walter Eschweiler (Euskirchen)
Tore: 1:0 Hermann Ohlicher (28.), 1:1 Jürgen Grabowski (37.), 1:2 Bernd Lorenz (47.), 2:2 Hermann Ohlicher (55.), 3:2 Egon Coordes (61.), 3:3 Bernd Hölzenbein (65.), 3:4 Jürgen Grabowski (90.)
VfB Stuttgart | Eintracht Frankfurt |
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Das Tor, das Grabi leidtat Vergangenheitsbewältigung der besonderen Art betreibt die Eintracht in der Ära Dietrich Weise. Das vor zwei Jahren etablierte Führungsquartett mit Präsident von Thümen, Vizepräsident Ernst Berger, Schatzmeister Gerhard Jakobi und Dietrich Weise, der seit seiner Vertragsverlängerung als „Sportdirektor“ fungiert, saniert den Verein nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich. „Eine Million Mark Gewinn erwirtschafteten die Riederwälder im vergangenen Jahr. Der finanzielle Ballast, den die Frankfurter in Form von gewaltigen Unterbilanzen der zurückliegenden Jahre seit langem mit sich herumschleppen, konnte damit erheblich erleichtert werden. Im Wesentlichen drücken die Frankfurter jetzt nur noch langfristige Verbindlichkeiten in Höhe von rund 800.000 Mark, denen freilich ein Vereinsvermögen in etwa gleicher Größenordnung gegenübersteht. Über acht Millionen Mark setzte der amtierende deutsche Pokalsieger im vergangenen Jahr um. Allein zwei Millionen entfielen dabei auf das in diesem Fall sportlich wie wirtschaftlich höchst lukrative Pokalgeschäft. Ziemlich genau eine Million Mark wurden mit Transfers hin- und herbewegt, wobei der Verkauf des jetzigen Hertha-Hünen Uwe Kliemann den finanziell beachtlichsten Posten ausmachen dürfte“, können die, die sich für das Geschehen abseits des Platzes und die Zukunft des Vereines interessieren, in der Zeitung lesen. Trainer Dietrich Weise ist bewusst, dass die schrittweise Gesundung des Vereins den sportlichen Erfolgen zu verdanken ist, die er bei seinem Amtsantritt sogleich mit einem kaum veränderten Spielerkader erzielen konnte. Sein Augenmerk als Trainer und „Manager“ muss also darauf liegen, dass diese sportliche Erfolgsgeschichte eine Fortsetzung findet, um die wirtschaftliche am Laufen zu halten. So warnt der Trainer vor dem Auswärtsspiel beim Tabellen-16. in Stuttgart eindringlich: „Jetzt heißt es verhindern, dass wir am Ende keinen einzigen Trumpf mehr vorweisen können.“ Als Titelanwärter ein Kandidat für den Europapokal der Landesmeister, als Pokalfinalist aussichtsreicher Bewerber für den Cup-Wettbewerb der Pokalsieger und schließlich als Mitglied des oberen Tabellenquintetts möglicher Teilnehmer im großen Feld der UEFA-Cup-Aspiranten, schien die Eintracht nach allen Seiten abgesichert, doch durch die Niederlagen in Offenbach und gegen die Hertha hat sich das Blatt gewendet. Deshalb fordert auch Skatkenner Grabowski zu erhöhter Wachsamkeit auf: „Im Pokalfinale gegen Duisburg müssen wir mindestens mit zwei Buben gehen.“ Wenn also der „Cup-Bube" wider Erwarten nicht stechen sollte, muss der dritte Bube oben stehen. Das heißt, so der Eintracht-Kapitän: „Am Ende der Saison muss zumindest unsere Teilnahme am UEFA-Cup gesichert sein. Denn sich als Verlierer des deutschen Pokalendspiels für diesen Wettbewerb zu qualifizieren, darauf darf nur Duisburg hoffen. Für den MSV nämlich ist es ausgeschlossen, noch unter die ersten Fünf zu kommen. Dies aber ist Voraussetzung, damit auch der im Pokalfinale Unterlegene in den UEFA-Cup einziehen kann.“ Warnen ist die eine Sache, Bangemachen die andere, die jedoch nicht gilt: „Wir kippen wegen der Schlappe gegen Berlin nicht aus den Latschen“, versichert Dietrich Weise und Kapitän Grabowski geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wir fahren nach Stuttgart, um zu gewinnen. Denn wir hoffen, dass wir mit unserem Konterspiel zum Zuge kommen werden.“ Das ist trotz der beklagenswerten Tabellensituation der Stuttgarter eine mutige Ansage. Ein Sieg beim VfB ist der Eintracht in der Bundesliga bisher nur ein einziges Mal gelungen, und das ist mehr als eine Weile her. Am 28.11.1964 sicherten Tore von Erwin Stein und Dieter Lindner den knappen 2:1-Erfolg. In den restlichen zehn Partien gab es vier Unentschieden, von denen zwei jedoch aus den Jahren 1963 und 1965 resultieren, und sechs Niederlagen. Im Schwabenland gab es für die Eintracht bislang nur wenig zu holen. „Ich meine, es müsste nicht sein, dass wir absteigen“, gab Stuttgarts Trainer und Altinternationaler Albert Sing nach dem 0:5-Debakel auf dem Bökelberg ein zaghaftes Lebenszeichen von sich. Sing, der Ende der 50er Jahre in Bern mit den Young Boys viermal in Folge den Schweizer Titel holte und mit diesen 1960 der Eintracht in der zweiten Runde des Europapokals der Meister unterlag, war bereits in der Spielzeit 1966/67 Trainer des VfB. Der damalige 12. Platz ist in unerreichbare Ferne gerückt, in dieser Runde geht es für das Gründungsmitglied der Bundesliga nur noch darum, irgendwie den Abstieg in die Zweitklassigkeit zu verhindern. Sing, der nach dem entlassenen Hermann Eppenhoff und dem aktuellen Co-Trainer Fritz Millinger bereits der dritte Coach der Schwaben in dieser Saison ist, wirkte allerdings nach der hohen Niederlage in Gladbach entmutigt und ratlos: „Wenn ein Mann wie Coordes da nichts ausrichten kann, dann bin ich mit meinem Latein am Ende.“ Am Abend vor der Begegnung gegen die Eintracht sitzt Sing jedoch nicht über einem Lateinbuch, sondern auf dem Bieberer Berg. Dort wird seine Hoffnung enttäuscht, die Kickers könnten den 1. FC Kaiserslautern eine Niederlage zufügen und die Pfälzer bei einem Sieg des VfB am Samstag mit in den Abstiegskampf verwickeln. Die Offenbacher, deren Spieler Bitz, Kostedde und Schäfer von anderen Vereinen umworben werden, werfen einstweilen angeblich ihre Angel in Richtung des VfB-Spielers aus, der in dieser Runde bei den Stuttgartern endgültig in Ungnade gefallen ist: Buffy Ettmayer. Der wiegelt allerdings ab: „Ich bin nur hier, um meinen Freund Hans Schmidradner zu besuchen und heilfroh, dass sowohl Offenbach als auch Kaiserslautern bereits zwei Ausländer unter Vertrag haben.“ Außerdem: „Mit dem HSV bin ich zu 99 Prozent klar. Am Dienstag oder Mittwoch fällt die Entscheidung.“ Das will jedoch Kickers-Geschäftsführer Willy Konrad nicht wahrhaben, der wieder mal große Töne spuckt: „Den Wechsel könnten wir noch verhindern. Ich habe mit dem Buffy ein interessantes Gespräch geführt. Er könnte ein ganz neues Element in unser Spiel bringen. Ein Mittelfeld mit Bitz, Hickersberger und Ettmayer wäre zumindest eine Überlegung wert.“ Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass Konrad seinen flotten Sprüchen wie so oft keine Taten folgen lassen wird. Es wird bei dieser einen Überlegung bleiben, die andere in Anbetracht der finanziell chronisch klammen Kickers vielleicht eher als Hirngespinst oder geistige Blähung bezeichnen würden. Lufttaschen sind im Darm zwar unangenehm, im Kopf jedoch führen sie zu weit mehr als schlechter Luft. Bodenständig und mit einer klaren Sicht, die nicht durch Luftschlösser Marke Eigenbau eingeschränkt wird, zeigt sich Georg „Schorsch“ Wurzer vor dem Spiel seines VfB. Wurzer, der den VfB Stuttgart von 1947 bis 1960 trainiert hat und mit den Schwaben je zweimal deutscher Meister und DFB-Pokalsieger wurde, wird gefragt: „Welches Gefühl haben Sie heute?“ „Ein schlechtes Gefühl. Hier hat zu viel Geld zu viel verdorben. Es fing schon vor Jahren mit der Eifersucht zwischen Köppel und Ettmayer an“, antwortet der inzwischen 68jährige aufrichtig. Ob Wurzers Gefühl prophetische Eigenschaften nachgesagt werden können, wird sich heute Nachmittag noch erweisen. Fest steht dagegen bereits, dass Gert Trinklein nach dreiwöchiger Verletzungspause wieder als Libero eingesetzt werden kann. Beim 6:0-Sieg im Freundschaftsspiel am Dienstag gegen den Wiesbadener A-Klassen-Vertreter und Grabowski-Heimatverein FV Biebrich hielt sich Trinklein freilich noch zurück, Aussagekraft für das heutige Spiel hat das nicht. Der leicht angeschlagene Nickel sowie der erkältete Neuberger, die gegen Biebrich geschont wurden, stehen ebenfalls in der ersten Elf. In dieser rückt Neuberger wieder auf die Außenverteidigerposition, was für Kalb den in der Rückrunde gewohnten Platz auf der Bank bedeutet. Wienhold - Reichel, Trinklein, Körbel, Neuberger - Beverungen, Kraus, Nickel - Lorenz, Grabowski und Hölzenbein sollen nach fast elf Jahren den zweiten Auswärtssieg beim VfB erringen. Ob aber der prasselnde Platzregen beim Warmlaufen ein gutes Omen für dieses Unterfangen ist? So eine nasse Dusche mitten im schönsten Sonnenschein kann einem durchaus die Petersilie verhageln, und genau dieses Schicksal scheint die Spiellaune der Gäste ereilt zu haben. Der Eintracht fehlt es zu Beginn zudem am nötigen Mumm, um zur spielbestimmenden Mannschaft zu werden. Da nutzt es wenig, dass Jürgen Grabowski als zurückhängender Mittelstürmer rackert wie ein Tagelöhner und die Bälle aus der eigenen Hälfte nach vorn schleppt, als hinge seine einzige warme Mahlzeit an diesem Tag davon ab. Außer ihm macht keiner in seiner Truppe Anstalten, sich als Dauerläufer auszuzeichnen oder aus der Nervosität und den häufigen Abspielfehlern der Gastgeber Kapital zu schlagen. Es kommt, wie es kommen muss. Die Stuttgarter legen nach und nach ihre Nervosität ab, die ihrer Tabellensituation, aber nicht etwa fehlender Klasse geschuldet ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr schnelles Spiel über die Flügel in Kombination mit der Fangunsicherheit Wienholds und der Kopfballschwäche der Frankfurter Abwehrspieler bei hohen Bällen Torchancen produzieren wird. Gute Taktiker erkennt man daran, dass sie ihre Angriffe an den Schwächen des Gegners ausrichten. Und die Schwaben zeigen, dass sie nicht nur fleißige Häuslebauer sind: Immer wieder fliegen die Bälle hoch in den Eintracht-Strafraum. Hadewicz hat in der 17. und 19. Minute zweimal den Stuttgarter Führungstreffer auf dem Fuß beziehungsweise auf dem Kopf. Glück für die Eintracht, dass der VfB-Akteur heute einen schwachen Tag erwischt hat. Nur eine Minute nach Hadewicz’ zweiter Chance scheitert Weller mit einem gefährlichen Flachschuss an Wienhold, der das Leder mit den Fingerspitzen zur Ecke lenken kann. Und kurz darauf kann sich Wienhold erneut auszeichnen, als er einen tückischen Aufsetzer von Elmer gerade noch ins Toraus bugsiert. Das 1:0 nach einer knappen halben Stunde entspringt dann einem typischen VfB-Angriff über die Flügel: Weidmann zirkelt den Ball hoch auf den Elfmeterpunkt, wo die Eintracht-Abwehr Ohlicher nahezu unbedrängt hochsteigen lässt. Der mit Abstand torgefährlichste Stuttgarter Spieler dieser Saison wuchtet den Ball mit dem Kopf ins Netz. Das Tor gibt den Gastgebern weiteren Auftrieb, ruft jedoch auch endlich die Eintracht auf den Plan. Nickel verabschiedet sich von seinem Vorruhestand im Mittelfeld und wird zu einem Perpetuum mobile des Frankfurter Angriffsspiels. Auf diesen kongenialen Partner hat Kapitän Grabowski nur gewartet, so dass es zu verschmerzen ist, dass die Aktionen an Kraus, der es mit dem heute schwachen Weller zu tun hat, meist vorbeilaufen. Das 1:1 in der 37. Minute ist ein einziger Ausdruck der Raffinesse Grabowskis. Wie ein Catcher nimmt Coordes Grabi in einen Klammergriff, als der Kapitän mit dem Rücken zum Tor ein langes Zuspiel von Karl-Heinz Körbel annimmt. Eine ebenso geschickte wie blitzartige Körperdrehung später ist Grabowski an Coordes vorbei, der wortwörtlich mit leeren Händen im Strafraum steht. Da kann sich Heinze noch so strecken, Grabowski hämmert den Ball unerreichbar für den Keeper unter die Querlatte. Fünf Minuten später sieht sich Heinze der nächsten gefährlichen Situation ausgesetzt, doch den gefährlichen Hinterhaltsschuss von Beverungen kann er mit Mühe abwehren. Auf der anderen Seite ist es ein Fehler Wienholds, der die Eintracht in der letzten Minute vor der Pause um ein Haar erneut in Rückstand bringt. Der ungewohnt fangschwache Keeper lässt einen harmlosen Ball fallen und hat Glück, dass Weller nicht schnell genug reagiert, um dieses Geschenk gebührend in Empfang zu nehmen. Trinklein kann in letzter Sekunde eingreifen und die Situation bereinigen. Kaum haben die Gastgeber die verpasste Chance verdaut und den Halbzeitstand aus Wuppertal verkraftet, wo der unmittelbare Konkurrent Werder Bremen mit 2:0 in Führung liegt, da schockt die Eintracht die Schwaben. Keine zwei Minuten sind nach dem Wiederanpfiff absolviert, als Willi Neuberger zu einem seiner rasanten Spurts auf der linken Flanke anzieht und kurz vor der Eckfahne eine herrliche Flanke vor das Tor der Stuttgarter schlägt. Bernd Lorenz ist dort zur Stelle und köpft den Ball wuchtig ins Tor der Gastgeber.
Die sich nun anbahnende spielerische Überlegenheit der Frankfurter wird von einem schweren Fehler Trinkleins nach 55 Minuten jäh unterbrochen. Der Eintracht-Libero versucht sich mit einem überflüssigen Rückpass, der völlig missrät. Brenninger erhält den Ball außerhalb des Strafraums und passt auf Ohlicher, der den heute ebenfalls unsicheren Körbel stehenlässt wie einen unerwünschten Hausierer an der Wohnungstür. Ohlicher lässt Wienhold nicht den Hauch einer Chance und es steht 2:2.
Doch damit nicht genug. Die Frankfurter Hintermannschaft hat offensichtlich Gefallen an kapitalen Fehlleistungen gefunden, während die Stuttgarter dem Toreschießen nicht abgeneigt sind. Nur sechs Minuten nach dem Ausgleich ist wieder Brenninger der Nutznießer eines Fehlers der Gäste. Am Strafraum wartet Brenninger, bis der wieder einmal aufgerückte Coordes - unbemerkt und unbehelligt - in den Eintracht-Strafraum eindringt, um ihn dann maßgerecht zu bedienen. Brenningers vortreffliches Zuspiel und Coordes' Torschuss sind eins, die Kugel zischt hoch in den von Wienhold gesehen linken Winkel des Kastens. Der Schlussmann der Hessen versucht den Ball noch mit dem ausgestreckten linken Arm zu erreichen, aber alle Anstrengung ist vergebens. Gut, dass die Eintracht nicht lange mit einer Antwort zögert – ein viertes Stuttgarter Tor und die Partie wäre zugunsten der Schwaben entschieden. Wieder ist es eine Flanke von Neuberger, die dieses Mal Hölzenbein findet, dessen Bewachung in diesem Moment in der Stuttgarter Defensive eine untergeordnete Rolle einnimmt. „Holz“ ist mit dem Kopf zur Stelle und nach 65 Minuten steht es 3:3. Die jüngere Tradition der torreichen Spiele zwischen den beiden Vereinen erfährt eine gelungene Fortsetzung. Bereits im Gegenzug fällt fast der siebte Treffer, doch Wienhold verhindert mit einer großartigen Parade den nächsten Stuttgarter Torjubel. Der Frankfurter Keeper riskiert Kopf und Kragen, als er sich Ohlicher in den Schuss wirft. Von dem schnellen, lauffreudigen und wendigen Stuttgarter Mittelstürmer, mit dem der leicht angeschlagene Körbel seine liebe Not hat, droht dem Eintracht-Tor zweifellos die meiste Gefahr.
Mit zwei Wechseln, Zech für Weidmann und Jank für den enttäuschenden Hadewicz, versucht Trainer Sing, dem VfB nochmals neuen Schwung mit auf den Weg zu geben, doch es ist Kraus, der drei Minuten nach der zweiten Stuttgarter Einwechslung stürmisch davon zieht. Der wieder einmal aufgerückte Coordes setzt ihm nach. Doch Kraus ist so weit enteilt, dass dem Stuttgarter nur noch eine Grätsche von hinten übrigbleibt, um den jungen Eintrachtspieler aufzuhalten. Coordes springt mit gestrecktem rechten Bein und trifft erwartungsgemäß den Knöchel seines Gegenspielers. Kraus bricht mit einem lauten Schmerzensschrei zusammen, als habe ihn eine Kugel zwischen den Schulterblättern getroffen. Er krümmt sich am Boden und jedem ist klar, dass es für den Eintrachtspieler nach diesem Foul nicht weitergehen wird. Coordes ruft nach den Sanitätern, die Kraus auf einer Trage vom Spielfeld in die Kabine bringen. Schiedsrichter Eschweiler steht wohl aufgrund des Geschehenen unter Schock, leidet unter einer vorübergehenden Blindheit oder hat schlicht vergessen, warum er auf dem Platz steht – seine Pfeife bleibt jedenfalls stumm. Es ist unfassbar … In den letzten fünfzehn Minuten bestimmt die Eintracht dank ihrer spielerischen Übersicht die Partie gegen nachlassende Gastgeber. Nickel und Grabowski dirigieren mit der Unterstützung des dynamischen Beverungen nun nach Belieben, die VfB-Spieler scheinen nun mehr mit ihrer Kondition zu kämpfen, als mit dem Gegner. Neuberger und Reichel nutzen diese Schwäche und stoßen jetzt immer öfter nach vorn. Hölzenbein wird meist nur durch Fouls gebremst, aber auch hier macht Schiedsrichter Eschweiler wie zuvor beim Foul an Kraus keine Anstalten einzugreifen. Eine Erklärung für Eschweilers Untätigkeit scheidet aus: Seine Pfeife kann die „Diva“ unter den Unparteiischen nicht vergessen haben, denn die kam heute ja schon mehr als ein halbes Dutzend Mal zum Einsatz. Apropos halbes Dutzend. Ebenso viele klare Torchancen haben die Frankfurter in dieser Schlussphase, ohne das Spiel für sich entscheiden zu können. Zweimal verstolpert Lorenz am Elfmeterpunkt, zum anderen meistert Heinze bedrohliche Fernschüsse von Nickel und Beverungen. Auch als Eschweiler vier Minuten vor Schluss endlich zugunsten von Hölzenbein auf Freistoß entscheidet, nachdem dieser von Zech knapp vor dem Strafraum gelegt wird, wehrt Heinze den glasharten Nickel-Schuss ab. Je größer und vielzähliger die Chancen der Eintracht werden, desto besser scheint Heinze zu halten. Schiedsrichter Eschweiler hat vielleicht ein Einsehen oder er lässt einfach nur die Unterbrechung bei der Auswechslung von Kraus nachspielen, auf jeden Fall kommt die Eintracht Sekunden vor dem Schlusspfiff noch einmal zu einer Torchance. Nickel schlägt einen herrlichen Pass zu seinem Kapitän, der aus spitzem Winkel den Ball an Heinze vorbei ins lange Eck schiebt. 4:3 in allerletzter Sekunde - das war eiskalt gemacht von Jürgen Grabowski. Dietrich Weise ist mit seinen Mannen dennoch nicht nur zufrieden: „Ich bin natürlich froh, dass wir gewonnen haben, aber ich ärgere mich sehr über die Leichtsinnsfehler, durch die wir nach der 2:1-Führung wieder in Rückstand geraten sind. Derart darf man das Spiel einfach nicht aus der Hand geben. Dennoch muss ich als positiv werten, dass wir nach dem 2:3 nicht umgekippt sind, sondern gekämpft haben. Für den VfB Stuttgart ist die Niederlage sicherlich sehr tragisch. Wir haben Glück gehabt, dass wir in der 91. Minute noch das Siegestor schießen konnten. Das gleiche Tor, das in der Vorrunde die Stuttgarter bei uns, ebenfalls in der 91. Minute zum 5:5, erzielten. Wolfgang Kraus hat einen Bruch des linken Fußgelenks erlitten und fällt für den Rest der Saison aus.“ Das Bein von Kraus wurde in der Kabine geschient, erst eine halbe Stunde nach Spielschluss tragen ihn die Sanitäter heraus. Eintracht-Arzt Dr. Degenhardt wird am Sonntag im Höchster Stadtkrankenhaus, in dem Kraus voraussichtlich zwei Wochen bleiben muss, die schwere Verletzung operativ versorgen. „Ein normaler Bruch“, lautet Degenhardts Diagnose, „Kraus wurde von hinten gehakelt und ist umgeknickt. Da ist es passiert. Vor zwölf Wochen kann Kraus nicht mit dem Training beginnen.“ Wenige Minuten nach Kraus’ Abtransport kommt der Übeltäter Egon Coordes zu Dietrich Weise und fragt: „Wo kann ich heute Abend den Kraus erreichen?“ Weise gibt Coordes seine eigene Telefonnummer und verspricht dem Stuttgarter Spieler, ihm die Telefonnummer des Krankenhauses zu geben. „Ich habe gehört, wie es geknackt hat“, scheint Coordes über die Folge seines Fouls immer noch erschrocken. Ebenfalls bewegt erscheint Jürgen Grabowski, der auch nach dem Sieg in Stuttgart das Angebot von Bundestrainer Helmut Schön ablehnt, gegen Holland zu spielen, wenige Minuten nach dem Schlusspfiff im Kabinengang bei einer befreundeten Familie: „Das Tor war wahrscheinlich das in meiner ganzen Laufbahn, was mir am meisten leidtut.“ Grabis Bedauern ist echt. So echt wie das Lachen einiger Stuttgarter Spieler beim Verlassen der Kabine. Den kleinen Jungen, der vor der Kabinentüre der Stuttgarter steht und bittere Tränen vergießt, beachten diese gut gelaunten Herren nicht. Stuttgarts Trainerassistent Millinger nimmt sich des Jungen, dem Sohn des Stadion-Hausmeisters, an: „Solange Spieler lachen, brauchst du nicht zu heulen.“ Grund zur Freude haben heute - mit der Ausnahme des bedauernswerten Kraus, der durch Coordes’ Tritt das DFB-Pokalfinale verpassen wird - nur die Spieler der Eintracht. In der Auswärtstabelle stehen sie mit 14:16 Punkten, 29:25 Toren, fünf Siegen und vier Unentschieden an zweiter Stelle hinter Borussia Mönchengladbach, die fantastische 19:11 Punkte aufweisen. „Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?“, stellt Trainer Dietrich Weise mit berechtigtem Stolz fest auf die Mannschaft fest, die vor seinem Engagement am Riederwald auswärts oft schüchtern und schwach aufzutreten pflegte. Das Geheimnis des Erfolges liegt für Weise in der Bereitschaft, „auswärts den Kampf anzunehmen“. Der Impulsgeber, der nach Rückschlägen und Rückständen für einen Ruck in der Mannschaft sorgt, und der, wenn schon nicht Berge, dann wenigstens einen Gegner in den Nachteil zu setzen versteht, hat Weise schon lange ausgemacht: Jürgen Grabowski. „Er ist das kämpferische Vorbild, an dem sich die anderen wieder aufrichten“, sagt sein Trainer. Grabi aber sonnt sich nicht in diesem Lob, sondern bekennt ehrlich, was ihm nach den schweren Abwehrfehlern zum Ausgleich und 2:3 durch den Kopf ging: „Ich dachte, das Spiel ist verloren.“ „Früher hätten wir so ein Spiel vergeigt“, meint Bernd Hölzenbein, was Hartmut Scherzer zu folgendem Resümee kommen lässt: „Der Satz und der Sieg unterstreichen den erstaunlichen Wandel der launischen Diva „Eintracht“ zum resoluten Weib auf fremden Fußballplätzen.“ Dennoch ist bei Trainer Weise nicht alles eitel Sonnenschein. Zu sehr schwankte ihm seine Elf wieder einmal zwischen Leichtsinn und Leistung: „Ich bin froh, dass wir gewonnen haben. Aber ich habe mich geärgert, dass wieder solche Dinge vorgekommen sind.“ „Solche Dinge“, das sind die Fahrlässigkeit, mit der Gert Trinklein dem Gegner den Ball in die Füße spielt, und die Schlafmützigkeit, die Brenninger und Coordes einen Doppelpass im Zeitlupentempo im Eintracht-Strafraum ermöglichten. Trinklein hat sich mit seiner Vorstellung heute keinen Gefallen getan. Dass er, wie Scherzer für die Abendpost/Nachtausgabe festhält, „eine Alibi-Binde um den linken Oberschenkel trug und bereits vor dem Spiel noch über leichte Schmerzen klagte“, verschafft ihm weder in den Augen des Journalisten noch seines strengen, aber gerechten Trainers mildernde Umstände. Weise gesteht einem „spielenden“ Libero mehr Fehler zu als einem „freien Mann“, der die Bälle einfach wegdrischt: „Aber bei Trinklein passieren mir diese Fehler einfach zu oft. Das vergesse ich nicht, auch wenn wir in Stuttgart letztlich gewonnen haben und der Leichtsinn nicht entscheidend ins Gewicht fiel.“ Wird der Trainer diesen Unsicherheitsfaktor in seiner Abwehr mit in die neue Saison nehmen? Trinkleins Verbleib bei der Eintracht ist weiter ungeklärt und Weise hält sich vor den noch anstehenden Gesprächen mit seinem Libero bedeckt: „Noch ist da nichts spruchreif.“ Weise hat aber nicht nur Antworten für die nächste Saison zu finden, er muss auch die aktuellen Probleme lösen. Wie kann er es bewerkstelligen, dass seine Elf im Waldstadion mit der Routine und Abgeklärtheit aufspielt, die sie seit Wochen auswärts an den Tag legt? „Darüber zerbreche ich mir auch schon den Kopf, wie das zu schaffen ist, habe aber noch keine Lösung gefunden. Immerhin, und das ist ermutigend, besteht hier die Möglichkeit einer weiteren Leistungssteigerung“, glaubt Weise. Eine solche Steigerung erwartet der Trainer im Fall von Jürgen Kalb nicht mehr, weshalb man ihm fristgerecht zum 30. April die Kündigung zugestellt hat. Kalb, der sich in der Woche nach dem Auswärtsspiel in Stuttgart auf dem Weg macht, um mit der Amateurnationalmannschaft im Olympiaqualifikationsspiel in Spanien anzutreten, ist jedoch bei anderen Vereinen nicht unbegehrt. Nach Rot-Weiß Essen und dem Karlsruher SC hat jetzt auch der FSV Frankfurt Interesse an der Verpflichtung von Kalb gezeigt. Das Angebot des FSV käme dem heimatverbundenen Spieler entgegen: „Ich würde am liebsten in Frankfurt bleiben. Aber ich will auch weiterhin in der Bundesliga spielen. Obwohl ich bei der Eintracht schon fast versauert bin, habe ich noch genug drin für die höchste Klasse.“ Der FSV will sich dennoch nicht geschlagen geben: „Wir lassen nichts unversucht“, sagt deren Vorsitzender Willi Jörg. Doch
die Konkurrenz ist groß. Udo Lattek, der Essen in der neuen
Saison trainieren soll, hat bereits vor Wochen bei Kalb vorgefühlt
und der KSC will in den nächsten Tagen mit der Eintracht Kontakt
aufnehmen. Derweil kommen von Eintrachts Vizepräsidenten Ernst
Berger unerwartete Töne: „Nach der Verletzung von Kraus,
müssen wir prüfen, ob wir Kalb überhaupt noch gehen
lassen können.“ Kalb macht sich keine Gedanken darüber,
ob aus Bergers Worten echtes Interesse spricht oder sie nur dazu dienen,
bei den Transferverhandlungen die Ablöse hochzutreiben: „Es
gibt kein Zurück zur Eintracht mehr. Ich will nicht länger
auf Gnade und Barmherzigkeit angewiesen sein.“ Auf Gnade und
Barmherzigkeit sollte er bei seinen Wechselplänen indes auch
nicht zählen: Die Eintracht hat eine Ablösesumme von 175.000
bis 200.000 Mark für Kalb aufgerufen. (rs) |