Eintracht Frankfurt - VfB Stuttgart |
Bundesliga 1974/1975 - 13. Spieltag
5:5 (3:2)
Termin: Sa 16.11.1974, 15:30 Uhr
Zuschauer: 15.000
Schiedsrichter: Walter Eschweiler (Euskirchen)
Tore: 0:1 Helmut Dietterle (8.), 1:1 Bernd Hölzenbein (17.), 1:2 Eckhard Müller (20.), 2:2 Roland Weidle (24.), 3:2 Karl-Heinz Körbel (30.), 3:3 Hermann Ohlicher (49.), 4:3 Karl-Heinz Körbel (54.), 5:3 Willi Neuberger (82.), 5:4 Hermann Ohlicher (84.), 5:5 Egon Coordes (89.)
Eintracht Frankfurt | VfB Stuttgart |
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Pfeifen, bis der Doktor geht Wieder kein Sieg im Derby gegen Offenbach, im Europapokal schon in der zweiten Runde gegen eine bisher weitgehend unbekannte Elf aus der Ukraine ausgeschieden und in der Bundesliga als ehemaliger Tabellenführer nach der Niederlage in Berlin auf Platz 7 abgerutscht - die Stimmung im Umfeld der Eintracht hat sich gedreht. Es ist jetzt nicht die Zeit, um zu hinterfragen, ob die Erwartungen vor der Saison und nach dem Pokalsieg nicht vielleicht von einigen zu hoch angesetzt wurden, jetzt ist die Zeit, in der Sündenböcke gesucht und auch gefunden werden, wenn sich der Erfolg nicht schnell wieder einstellt. Die Zeichen für eine Trendwende stehen vor dem heutigen Spiel aber günstig. Zwar sind es bis zu Platz 13 nur noch zwei Punkte Vorsprung, aber gegen den Drittletzten VfB Stuttgart sollte in einem Heimspiel doch ein Sieg möglich sein, zumal die Schwaben in dieser Saison bislang auswärts noch ohne Punktgewinn sind und es für sie bei der Eintracht seit über neun Jahren nichts zu holen gab. In der letzten Spielzeit reichte den Stuttgartern nicht einmal ein 3:0-Vorsprung, um in Frankfurt einen Punkt zu ergattern – die Eintracht schoss zwischen der 68. und 84. Minute vier Tore und schlug den VfB im Waldstadion zum neunten Mal in Folge. Lediglich in der Saison 1964/65 gab es eine knappe 2:3-Niederlage für die Eintracht, kaum einer zweifelt also daran, dass heute der 11. Bundesligaheimsieg gegen den VfB eingefahren wird. Es ist jedoch nicht nur die Statistik, die Anlass zu Hoffnung gibt. Überraschend hat die Frankfurter Eintracht in dieser Woche ihre Suche nach einem Außenstürmer abgeschlossen: Der zweifache DFB-Auswahlspieler Willi Neuberger wechselte von der Wupper an den Main. Zwei Tage, nachdem der 28-Jährige noch für den Wuppertaler SV stürmte, meldete Eintracht-Pressesprecher Birkholz am Montag: „Noch in dieser Woche unterschreibt Neuberger bei uns einen Zwei-Jahres-Vertrag. Und er wird schon am Sonnabend gegen den VfB Stuttgart für uns spielen.“ Trainer Weise gab sich ebenfalls optimistisch: „Ich hoffe, dass Neuberger morgen um neun Uhr schon mit uns trainieren wird. Er wird bei uns im Angriff spielen, weil der Angriff unser größter Kummer ist.“ Diesen Kummer hat nun der neue Trainer des Tabellenletzten aus Wuppertal, Janos Bedl: „Unser bester Mann wird verkauft. Es sieht so aus, als hätte unser Vorstand mit diesem Verkauf bereits sportlich resigniert.“ Dem abstiegsbedrohten Verein bleibt jedoch nichts anderes übrig, wie es scheint. Angeblich wurde dort bereits erwogen, die Bundesliga-Lizenz zurückzugeben. Auf 600.000 Mark sollen sich die Schulden des WSV belaufen, dessen letzte drei Heimspiele gegen Hertha, Köln und Braunschweig insgesamt nicht einmal 24.000 Zuschauer sehen wollten. Ungeachtet der finanziellen Situation ist ob des Weggangs von Neuberger die Stimmung in der Mannschaft des WSV mehr als getrübt. „Das wird bei den Spielern ein Riesentheater geben, weil wohl alle über den Verkauf bestürzt sind“, prophezeit Torwart Manfred Müller. Keine negativen Auswirkungen auf sein Team fürchtet dagegen Eintracht-Kapitän Jürgen Grabowski: „Ich habe bei keinem Spieler Panik entdeckt, dass er nun um seinen Posten fürchten müsse. Jeder wusste doch, dass ein guter Mann her musste, der von heute auf morgen einzusetzen ist. Auf jeden Fall ist es beruhigend, einen Spieler von solcher Vielseitigkeit im Kader zu wissen. Ich glaube, die Eintracht wird mit Willi Neuberger stärker. Gegen Stuttgart soll es mit Neuberger am Samstag einen neuen Anfang geben.“ Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es, doch das veröffentlichte Foto, das Grabowski nach dem ersten gemeinsamen Training mit verzogener Miene hinter Neuberger gehend zeigt, beweist, wie falsch der Eindruck sein kann, den solch zufällige Momentaufnahmen vermitteln. Jürgen Grabowski nämlich begrüßt die Verpflichtung, die die Eintracht 400.000 Mark Ablöse gekostet hat, ausdrücklich. „Neuberger kam im psychologisch richtigen Augenblick. Bei jeder Mannschaft, die in einer solchen Talsohle marschierte wie wir, ist das Selbstvertrauen angeknackst, doch schon bei unserer guten Leistung während der zweiten Halbzeit in Berlin am vergangenen Wochenende hatte ich das Gefühl, dass das Ärgste überstanden ist. Und die Verpflichtung von Neuberger, der sowohl vom Namen als auch von seinen Leistungen her ein guter Mann ist, wird unsere Mannschaft zusätzlich beflügeln“, sieht „Grabi“ optimistisch nach vorne. Doch wie sieht Neuberger selbst seine Zukunft? An die überragenden Leistungen beim BVB hat er in den letzten drei Jahren weder in Bremens gescheiterter „Millionenelf“ noch in Wuppertal anknüpfen können, am 6. Spieltag flog er bei der 1:3-Niederlage des WSV in Offenbach sogar zum ersten Mal in seiner Bundesligalaufbahn vom Platz. „Ich bin mal gespannt, wie’s in Frankfurt läuft“, sagt der Spieler selbst und teilt diese Spannung mit den Verantwortlichen und den Fans der Eintracht. Einen ersten Arbeitsnachweis kann er tatsächlich bereits heute gegen den VfB erbringen, wie DFB-Pressesprecher Klaus Koltzenburg bestätigte, nachdem die Papiere durch Eintracht-Geschäftsführer Jürgen Gerhardt rechtzeitig überbracht wurden und Neuberger damit auf der neuesten Transferliste des Deutschen Fußball-Bundes erscheinen konnte. Am Dienstag trainierte Neuberger schon zum ersten Male mit seinen neuen Mannschaftskameraden, Trainer Dietrich Weise hatte einen Waldlauf im Frankfurter Stadtwald angesetzt. Bei diesem Waldlauf gab es eine weitere erfreuliche Nachricht, denn mit Ausnahme der verletzen Andree und Lorenz sowie Wolfgang Kraus, der in dieser Woche noch einmal Dienst bei der Bundeswehr ableisten muss, konnten alle Feldspieler teilnehmen - die beiden Torhüter Dr. Kunter und Wienhold erhielten derweil ein Sondertraining durch den Trainerassistent Dieter Stinka. Das bedeutet, dass der in den Spielen gegen Kiew schmerzlich vermisste Peter Reichel wieder im Mannschaftstraining ist. „Der Peter hat keine Schmerzen mehr und absolviert das gleiche Trainingsprogramm wie alle anderen“, ist Weise guter Hoffnung, dass er Reichel schon beim nächsten Auswärtsspiel in Köln wieder einsetzen kann. Nach dem Training verspürte Reichel keine Schmerzen. „Er fühlte sich nur müde“, berichtete sein Trainer. Andree soll in der nächsten Woche ins Training einsteigen, bei Bernd Lorenz sieht es dagegen nicht so gut aus, er humpelt weiter herum „und kann wahrscheinlich in diesem Jahr nicht mehr spielen“, wie Weise fürchtet. Willi Neuberger bestätigte indes noch einmal, wie schnell und überraschend die Eintracht zugegriffen hatte: „Ich habe auch erst am Samstag davon erfahren. Als dann einmal alles im Rollen war, wurden wir schnell handelseinig.“ Neuberger, der vorerst in seinem Heimatort Rollfeld bei Miltenberg wohnen wird, ist guter Dinge: „Für mich ist dieser Wechsel eine sportliche Verbesserung, denn die Eintracht ist eine sehr gute Mannschaft.“ Trainer Weise zeigte sich in dieser Woche gewohnt zurückhaltend und wollte zunächst nicht einmal verraten, welche Position der Neuling gegen den VfB bekleiden soll, obwohl allgemein damit gerechnet wird, dass Neuberger sein Debüt als Linksaußen geben wird. Auch die Schätzung von Geschäftsführer Jürgen Gerhardt, dass „zwischen 5.000 und 10.000 Zuschauer mehr“ zum Spiel am Samstag ins Waldstadion kommen würden, nur um Willi Neuberger zu sehen, wies der Coach mit zornesrotem Gesicht zurück: Das sei eine „rein hypothetische Spekulation“, beschied Weise, der nie ein Freund von vollmundigen Ankündigungen und Versprechungen werden wird. Der Trainer befürchtet möglicherweise, dass mit derartigen Zahlenspielereien aus den eigenen Reihen die Erwartungen an Neuberger zusätzlich künstlich gesteigert werden. Sein Appell lässt diesen Schluss jedenfalls zu: „Man kann am Samstag von Willi noch keine Wunderdinge erwarten.“ Auch ein Routinier wie Neuberger, findet Weise, könne sich nicht „von heute auf morgen auf die Spielweise einer neuen Mannschaft einstellen.“ Nach einigen Tagen Training kenne Neuberger zwar die Vornamen der Spieler, von denen er den Ball fordert, „aber es braucht eine gewisse Zeit, bis die Harmonie und das Spielverständnis vollkommen hergestellt sind. Gewöhnlich hat ein Neuer vor Beginn einer Saison mehrere Trainingswochen und bis zu zehn Freundschaftsspiele Zeit, sich an die andere Umgebung zu gewöhnen. Willi spielt von einem Samstag zum anderen in einer neuen Mannschaft. Dennoch hoffe ich, dass er am Samstag einschlägt. Doch hundertprozentig auf Anhieb kann das nicht geschehen. Man würde ihn damit überfordern.“ Willi Neuberger zeigt sich von den Diskussionen um ihn ebenso unbeeindruckt, wie er schlagfertig ist. Auf die Frage, wie er mit dem rasanten Wechsel umzugehen gedenkt, antwortet der Neuling: „Ich stelle mir eben vor, dass der Wuppertaler SV in einem neuen Trikot spielt.“ Weitere Verstärkungen, beispielsweise für die unsicher wirkende Abwehr, schließt Trainer Weise für diese Spielzeit aus: ,,Wir werden mit keinem Spieler mehr Verhandlungen über einen Transfer für die Saison 1974/75 führen.“ Er mag dabei auch an den Jugend-Nationalspieler Winfried Stradt denken, den die Eintracht verpflichtet hat. Stradts Debüt wird frühestens am nächsten Samstag in Köln erfolgen, da er zurzeit noch mit Herbert Widmayers DFB-Nachwuchs-Team bei einem Turnier in Monaco spielt. Der junge Mann ist allerdings Stürmer, kein Verteidiger. Aber gut, immerhin hat sich die Personalsituation bei der Eintracht so entspannt, dass kein Amateur mehr auf der Ersatzbank Platz nehmen muss. Viel mehr will Weise jedoch auch einen Tag vor dem Spiel nicht verraten; er lässt weiterhin offen, ob Weidle oder Rohrbach im Sturm auflaufen wird. „Fest steht, dass Willi Neuberger im Sturm spielt“, als „Links- oder Rechtsaußen“, mehr gibt Weise nicht preis – mit Neuberger als Mittelstürmer dürfte indes auch kaum einer gerechnet haben. Neuberger, dessen erklärter Lieblingsposten die Position des Liberos ist, meldet keine Ansprüche an und verspricht brav: „Ich spiele dort, wo mich der Trainer hinstellt. Und es ist abgesprochen, dass dies zunächst im Angriff ist.“ Dort „stellt“ ihn Weise heute auch zu Hölzenbein und Weidle, den der Trainer Rohrbach vorgezogen hat. Für Neuberger muss Kraus auf die Bank, so dass die Eintracht heute mit folgender Elf antritt: Dr. Kunter - Kalb, Trinklein, Körbel, Müller - Beverungen, Grabowski, Nickel – Neuberger, Hölzenbein und Weidle. Die Stuttgarter laufen ohne ihren Star „Buffy“ Ettmayer auf. „Er befindet sich in einem Formtief“, begründet VfB-Trainer Eppenhoff seine Maßnahme. Außerdem ist er mit der Einstellung des Österreichers nicht zufrieden: „Er brachte zuletzt nicht den nötigen Einsatzwillen.“ Den bringen jedoch die 11 Spieler, denen Eppenhoff heute im Gegensatz zu Ettmayer das Vertrauen schenkt. Und es dauert nur acht Minuten, bis er das erste Mal über ein Tor seiner Mannschaft jubeln kann. Weidmanns Flanke verwertet Helmut Dietterle zur Stuttgarter Führung. Es ist nicht nur Dietterles erstes Saisontor, es ist auch sein erster Bundesligatreffer überhaupt. Die - zur Enttäuschung des Frankfurter Schatzmeisters Gerhardt - nur 15.000 Zuschauer sind alles andere als amüsiert. So hatte man sich den Auftakt nicht vorgestellt. „Nach oben“ lautet die Überschrift auf der Titelseite des Stadionprogramms für das heutige Spiel und so sehen auch die Erwartungen des Publikums aus, die nun einen unerwarteten Dämpfer erhalten haben. Gut, dass Hölzenbein nur neun Minuten nach dem 0:1 ausgleichen kann. Sein Freistoß aus 20 Metern schlägt nach 17 Minuten unhaltbar für Torhüter Heinze ein. Doch die Freude währt nur kurz, weil die Eintracht über das Stürmen ihre Abwehrarbeit vernachlässigt. 20 Minuten sind gespielt, als Eckhard Müller zum 1:2 vollstreckt. Es ist wie bei Dietterle nicht nur sein erster Saisontreffer, sondern auch sein erster in der Bundesliga. (Anmerkung: Es wird für beide Spieler das einzige Tor in der Ersten Liga bleiben.) Dr. Kunter im Tor der Eintracht hat noch keinen Ball halten können. Zweimal kam das Leder auf sein Tor, zweimal schlug es ein. Einen Vorwurf kann man dem Frankfurter Schlussmann im Grunde nicht machen, das Frankfurter Publikum stört sich aber nicht daran und pfeift auf den eigenen Keeper. Der Sündenbock scheint gefunden, wen interessiert da schon, dass Dr. Kunter vor 14 Tagen im Derby gegen Offenbach kurz vor Schluss das Unentschieden gerettet und am letzten Samstag in Berlin vortrefflich gehalten hat? Die beiden Weitschusstore im Hinspiel gegen Kiew werden ihm von einem Teil der Zuschauer angekreidet, ob zu Recht oder Unrecht spielt keine Rolle, denn das Gerücht, dass Dr. Kunter bei Flutlicht wegen seiner Kontaktlinsen Probleme hat, ist nicht totzukriegen, seit er in der letzten Saison in Essen und Offenbach innerhalb von einer Woche 11 Treffer kassierte. Dass sein Freund und Konkurrent Wienhold vor 10 Tagen in Kiew beide Gegentore auf seine Kappe genommen hat, spielt heute Nachmittag ebenfalls eine untergeordnete Rolle, wenn es überhaupt eine spielt. Die Frage, wie der „fliegende Zahnarzt“ die Schmähungen der eigenen Fans verkraftet, kann noch nicht beantwortet werden, auch wenn er nicht unbeeindruckt scheint. Nicht beeindruckt sind dagegen seine Mitspieler von der Gäste-Führung. So sehr die Eintracht auch die Deckung vernachlässigt, so überzeugend trägt sie ihre Angriffszüge vor. Und ob die Stuttgarter Defensive erstklassigen Ansprüchen genügt, muss sie im Laufe dieser Saison erst noch beweisen – heute sieht es nicht danach aus. Völlig frei steht Roland Weidle in der 24. Minute am Fünfer der Schwaben in Mittelstürmerposition und wirft sich dem Ball entgegen, den er mit dem Kopf erreicht. Aus dieser Distanz ist der auf dem falschen Fuß erwischte Heinze ohne echte Abwehrchance. Er versucht zwar noch mit seinem rechten Bein das Leder daran zu hindern, die Torlinie zu überschreiten, doch selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte der nachsetzende Hölzenbein den erneuten Ausgleich erzielt. Und nur sechs Minuten nach dem 2:2 ist es der Vorstopper Körbel, der ebenfalls per Kopf zuschlägt und die Eintracht erstmals in dieser Partie in Führung bringt. Körbel lässt heute keine Gelegenheit aus, um nach vorne aufzurücken. Manchmal verlässt er stürmenderweise aber auch seinen Posten, wenn sich die Möglichkeit nicht bietet. Man mag es unerfahren nennen, vielleicht auch disziplinlos, taktisch klug sind seine zahlreichen Ausflüge jedenfalls nicht. Die stehen nämlich wie der böige Wind, der fast so stürmisch ist wie die beiden Angriffsreihen, einer reichen Torernte nicht im Wege: „Da kann man ja kaum einen Ball berechnen“, klagt Dr. Kunter, während sich Bernd Nickel in der 38. Minute wundert, als das 4:2 förmlich in der Luft liegt, aber eben dort auch verharrt. „Plötzlich blieb der Ball in der Luft stehen“, sieht sich Nickel durch den Wind um den Torerfolg gegen den bereits geschlagenen Heinze gebracht. Dietrich Weise, dem man keine übergroße Nähe zu Ausreden vorwerfen kann, widerspricht seinen Spielern nicht: „Er macht schon viel aus und beeinflusst das Spiel.“. Sein Stuttgarter Kollege Eppenhoff pflichtet ihm bei: „Ja, das stimmt. Aber mit dem Wind müssen schließlich beide Mannschaften fertig werden.“ Mit der Frankfurter Führung kehrt auch die gute Laune des Publikums zurück. Willi Neubergers dynamisches Debüt auf der Außenbahn lässt den Groll auf Dr. Kunter vorübergehend vergessen. Mit Sprechchören wird „Williiii“ gefeiert und bei seinen Spurts begleitet. Die Stimmung ist so gut, dass sich selbst der Frankfurter Stadionsprecher einen Flachs mit den Eintrachtfans erlaubt: „Feuern Sie den Entenmann nicht so an. Der heißt nämlich auch Willi …“ Das muntere Toreschießen findet direkt nach der Pause seine Fortsetzung. Körbels Gegenspieler Ohlicher nutzt seine Freiheiten und trifft zum 3:3 in der 49. Minute. Nein, für Ohlicher ist es nicht das erste Saisontor. Der mit 17 Treffern beste VfB-Schütze der letzten Spielzeit hat bereits zum 7. Mal in dieser Saison zugeschlagen. Vielleicht ist es Körbel bewusst, dass er auf den gefährlichen Ohlicher besser hätte aufpassen müssen. Nur fünf Minuten nach dem Ausgleich schraubt sich der der junge Vorstopper in einen Freistoß von Nickel und zeigt mit einem energischen und kraftvollen Kopfstoß, dass ihm die volle Anzeigetafel in seinem Rücken nicht die Bohne interessiert. 4:3 – soll der arme Mensch, der jetzt versuchen muss, Körbels Treffer auf der Anzeigetafel unterzubringen, doch einfach die Minuten weglassen, in denen die Tore gefallen sind. Warum sich die Abwehr der Eintracht nach der neuerlichen Führung immer noch gefordert sieht, den Angriff offensiv zu unterstützen, wird ihr Trainer hoffentlich klären können. Die Angriffsreihe der Eintracht bedarf dieser Hilfestellung nämlich ganz und gar nicht, denn Neuberger und der ansteigende Form zeigende Hölzenbein wirbeln die VfB-Abwehr so durcheinander, dass der heftige Wind im Waldstadion glauben muss, stürmische Verwandte getroffen zu haben. Es mangelt der Eintracht heute gewiss nicht an Einsatz, der Willen aus der Stagnation der letzten Wochen herauszukommen, ist spür- und sichtbar. So zeigt Grabowski wieder vorbildlichen Kampfgeist als sich ständig freilaufende Anspielstation, doch wie bei seinen Mitspielern verfehlen auch seine Pässe zu oft den Nebenmann und beim Schuss auf das Tor scheitert der Weltmeister zwei-, dreimal in aussichtsreicher Position am auf der Linie glänzend reagierenden Heinze. Acht Minuten vor dem Spielende – mittlerweile sind bei der Eintracht Rohrbach für Weidle und Kraus für Beverungen im Spiel - scheint die Partie trotz aller ausgelassener Chancen zugunsten der Eintracht entschieden: Willi Neuberger fliegt zum Entzücken der Frankfurter Fans in vorbildlicher Haltung und elegant wie ein Tänzer vom Broadway in eine Flanke und köpft das Leder unhaltbar für Heinze zum 5:3 ins Netz. Doch während man der Eintracht bei vier Kopfballtreffern in der Offensive nur ein Spiel mit „Köpfchen“ bescheinigen kann, agiert die Frankfurter Deckung im wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Jeder hoch hereinkommende Ball scheint die Abwehrspieler der Eintracht zu lähmen, denn die Kopfballduelle im Strafraum der Frankfurter gewinnen fast immer die Gäste. Dabei haben die Frankfurter mit Libero Trinklein den weitaus längsten Spieler auf dem Feld. Ohne Peter Reichel zur Rechten und ohne Uwe Kliemann in der Nähe ist Trinklein im Moment nur noch Handlanger, aber nicht mehr Chef im eigenen Strafraum. Jeder macht, was er will. Körbel ist ohnehin kaum hinten zu halten und auch Kalb und Müller sehen die Aufgabe des „stürmenden Verteidigers“ nur noch im Stürmen und vergessen völlig das Verteidigen, dabei gilt es doch jetzt nur noch, das 5:3 über die letzten acht Minuten zu bringen. Die Strafe folgt auf dem Fuße - auf dem Fuß des wendigen und trickreichen Ohlicher, der Körbel zur Hilflosigkeit verurteilt. 5:4 heißt es nach Ohlichers achtem Saisontreffer, den er nach Vorlage von Stickel erzielt, und noch sind sechs Minuten zu spielen. Die Flanken segeln in den Frankfurter Strafraum und jedes Mal herrscht die höchste Alarmstufe. Dr. Kunter und seine Vorderleute sind völlig verunsichert und die Eintrachtfans beten, dass diese torreiche Partie genug Treffer gesehen hat und endlich zu Ende geht. Noch sind es fünf Minuten, noch vier, noch drei, noch zwei … Und da ist es passiert. Dr. Kunter liegt am Boden, Egon Coordes kommt im Fünfmeterraum an den Ball, weder Kalb, Körbel noch Nickel werfen sich dem entschlossenen Schützen entgegen. Abwehrend heben die drei Eintrachtspieler die Arme und Hände, das 5:5 in der 89. Minute ist so natürlich nicht zu verhindern. Während Coordes jubelnd abdreht, fasst sich Gert Trinklein mit beiden Händen an den Kopf und schaut entsetzt in Richtung Jürgen Kalb und das eigene Tor. Der ersehnte Heimsieg ist futsch und Dr. Kunter, der bei den letzten Gegentoren nicht gut ausgesehen hat, ist der Buhmann des Publikums. Nach dem Spiel wird Libero Trinklein zum heillosen Durcheinander in seiner Abwehr befragt: „Kein Kommentar“, ist seine Antwort, bevor er das Weite sucht. Er weiß, dass an diesem windigen Novembertag Uwe Kliemann noch mehr vermisst wird als letzte Woche in Berlin, wo dieser mit seinem Treffer für die Hertha die Eintracht-Niederlage besiegelte. In der letzten Saison war es Kliemann, der bei der unglaublichen Aufholjagd der Eintracht gegen den VfB trotz Nasenbeinbruchs die treibende Kraft war. Diese Kraft, dieser unbeugsame Willen, dieser Kliemann fehlen der Eintracht in diesen Tagen. VfB-Trainer Eppenhoff dagegen fehlt heute nichts, er kann aufatmen: „Das war unser erster Auswärtspunkt. Er wurde errungen von einer Mannschaft mit einer neuen Einstellung. Dazu ein Punkt, der vollauf verdient war, dank einer vorbildlichen Moral der ganzen Truppe mit einem, trotz der fünf Gegentreffer imponierenden Heinze im Tor, einem ausgezeichneten Dirigenten Weller und einem nie zu kontrollierenden Ohlicher als Angriffspitze.“ Während Eppenhoff hörbar die Wackersteine vom Herzen fallen, fragt sich Dietrich Weise, der zum Rundfunk-Interview gebeten wird: „Was soll man den Leuten nach so einem Spiel noch verkaufen?“„Am besten das Kabel durchschneiden“, ist Willi Neubergers Antwort. Die Torflut gibt in der Tat Rätsel auf, die Weise nicht unbedingt vor einem Mikrofon zu lösen braucht, eine Antwort finden muss er allerdings auf jeden Fall, auch wenn er meint: „Es ist schwer, eine Erklärung zu suchen.“ Weise deutet mehrmals an, dass er über einen Umbau der Abwehr nachdenkt, um die Probleme der Frankfurter Defensive zu lösen: „Ich werde mir das überlegen. Auf keinen Fall wird Neuberger aber aus dem Angriff genommen.“ Unbeantwortet bleibt an dieser Stelle jedoch, ob diese Festlegung des Trainers dem Einkauf Neubergs als Stürmer oder dessen grandiosem Einstand auf dieser Position geschuldet ist. Dass sein Debüt als hervorragend bewertet wird, kommentiert Neuberger trocken: „Nur das Ergebnis leider nicht.“ Aber nicht nur Neubergers sympathische Art ist ein Gewinn, nahezu nahtlos hat er sich in das Sturmspiel der Eintracht eingefügt. Mit seiner Schnelligkeit und seinem Instinkt, im direkten Kombinationsspiel stets das Richtige zu tun, bereichert er das Sturmspiel. Andere biegen mit einem Tor eine misslungene Darbietung wieder zurecht, Neubergers herrlicher Treffer zum 5:3 war jedoch die Krönung seines gelungenen Einstands. Neuberger bleibt bescheiden und gibt das Kompliment an seine Mitspieler weiter: „Das Spiel der Eintracht wird von der Bewegung getragen. Das kommt meiner Spielweise sehr entgegen.“ „Was er tat, hatte Hand und Fuß. Er hat seine Verpflichtung vollauf gerechtfertigt“, stellt sein Trainer nüchtern, aber nicht ohne Stolz fest. Mit dem Resultat ist Weise natürlich nicht zufrieden, obwohl sich die Eintracht durch das Unentschieden in der Tabelle von Platz 7 auf 6 verbessern konnte: „Es nutzt ja nichts, wenn wir fünf Tore schießen, wenn die Abwehr so löchrig ist. Fast bei jeder Flanke war doch höchste Gefahr.“ Der Trainer der Eintracht ist „schwer enttäuscht, weil meine Mannschaft einen 5:3-Vorsprung nicht über die restlichen sieben Minuten Spielzeit hat bringen können. Zum Schluss ergab jede Stuttgarter Flanke in unserem Strafraum eine torgefährliche Situation. Angefangen beim Torwart, über den Libero und den Vorstopper bis hin zu den Außenverteidigern konnte keiner in unserer Abwehr überzeugen.“ Weise weigert sich, aus Peter Kunter einen „Schwarzen Peter“ zu machen: „Alles, was hinten stand, war schwach und verlor in brenzligen Situationen die Übersicht. Ich muss mir in der kommenden Woche Gedanken über Umstellungen in der Hintermannschaft machen.“ Hat nun die Unsicherheit des Torwarts die Abwehr nervös gemacht oder die Nervosität der Hintermannschaft den Ballfänger verunsichert? Dr. Kunter ist eine einfache, aber einseitige Schuldzuweisung zu billig. „Ich glaube, das griff ineinander“, sagt der Keeper, der für sich bereits die Konsequenzen gezogen hat: „Ich werde mich jetzt für ein Vierteljahr auf die Bank setzen. Wienhold soll jetzt ins Tor. Ich lasse mich da auch von Herrn Weise nicht umstimmen.“ „Ich hatte zwei Bälle ohne mein Verschulden im Netz, aber noch keinen gehalten. Da kamen schon die Schmähungen der Zuschauer, Das hat mich nervös gemacht. Darüber ärgere ich mich, denn so etwas dürfte einem so alten Routinier wie mir eigentlich nicht passieren. Es gelang nichts mehr, und ehe ich nun zum Buhmann werde, bleibe ich lieber auf der Bank“, zeigt sich Dr. Kunter ebenso selbstkritisch wie geradlinig. Während sein Trainer vage von Umstellungen und der Behebung der Abwehrmisere spricht, ist Torwart Dr. Kunter um eine klare Aussage nicht verlegen, die er noch einmal wiederholt: „Jetzt muss Günter Wienhold ran. Ich möchte eine schöpferische Pause machen und im nächsten Vierteljahr, wenn es geht, nicht im Eintracht-Tor spielen. Das Publikum ist offensichtlich Kunter-müde“, wertet der Zahnarzt elegant die Schmähungen und Verhöhnungen, die er sich auch in der Schlussphase gefallen lassen musste. Jedem ist klar, dass der Torwart, dem die Eintracht so viel zu verdanken hat, keine zeitlich begrenzte Auszeit nehmen will, sondern das Ende seiner Zeit als Nummer 1 und möglicherweise auch seiner Profi-Karriere verkündet. Mitten im Herbst geriet also der Nachmittag, mit dem Willi Neuberger vielleicht seinen zweiten Frühling eingeläutet hat, zum Winter in der Karriere von Dr. Kunter. Manche feiern bis der Arzt kommt, das Frankfurter Publikum pfiff so lange, bis der Doktor ging. (rs)
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