05.06.2006

In Frankfurt steht es... der 25.05.2003 in Braunschweig

Abpfiff! 1:4. Regungslose, geradezu vor Angst gepeinigte Spieler im Mittelkreis des Spielfeldes. Panische Gesichter, live auf der Stadion-Videotafel zur Schau gestellt. Mittendrin mein (angeblich ehemaliger) Nachbar aus Frankfurt Nieder-Eschbach. Doch von der Gefühlswelt trennen uns - weiß Gott - mehr als nur zwei mickrige Straßenzüge. Er Trainer, eines bedeutungslosen Karnevalsklubs, der kurz vor dem größten Erfolg seiner Vereinsgeschichte steht. Ich, ein einfacher aber stolzer Fan der ruhmreichen Frankfurter Eintracht, zu diesem Zeitpunkt, und das seit gut einer halben Stunde, nur noch ein Häufchen Elend...

Leere apathische Blicke auf die Videotafel. Wieso freuen die sich nicht? Der Fußballgott, der vor vier Jahren noch großzügig seinen Freudenbecher über die Eintracht ausschüttete, als eine nicht mehr für möglich gehaltene Aufholjagd mit dem 5:1 gegen Lautern gipfelte, hatte doch schon längst die Seiten gewechselt. Niederlage aus heiteren Himmel gegen Trier, Unterkante der Latte gegen Union Berlin, Lastminute-Schock in Mainz... In Ahlen ließ er doch nur die Narrenkappen-Bande verlieren, damit wir uns - und das war zu diesem Zeitpunkt klar - in falscher Hoffnung wiegen konnten. Selbst mein wirklich schweres Opfer, nicht in Frankfurt zu sein, sondern hier, an dem Ort, der unmittelbar davor stand als Synonym für den größten Triumph des Rosenmontagszuges degradiert zu werden, schien ihn nicht wohlwollend zu stimmen. Hätte ich etwa noch meine Katze opfern sollen??? In Frankfurt steht es 4:3...

Sommer 2002. Eintracht Frankfurt und seine Fans standen vor dem Nichts. Ernsthafte Überlegungen wurden in der Kneipe und am Telefon gebrütet, Geld zu sammeln, damit wir irgendeinen finanzschwachen Landes- oder gar Oberligisten aufkaufen und ihn in SG Eintracht Frankfurt 02 e.V. umbenennen, damit wir nicht auf der Bertramswiese ganz von vorn anfangen müssen. Im letzteren Fall, sollte also die gesammelte Kohle nicht reichen, sahen wir uns schon selbst das Eintracht-Trikot überstreifen (eigentlich eine fantastische Vorstellung!), um, verstärkt durch die reaktivierten Uwe Bein und Bernd Hölzenbein, die Mission "In 10 Jahren wieder Profifußball!" anzugehen. Der Frankfurter Kommunal-Politiker als solcher, faselte unterdes etwas vom FC Rhein-Main, wenn nicht gerade voller Neid nach Mainz geschaut wurde. In Frankfurt steht es 4:3...

Ich sammle meine ganze noch verbliebene Kraft, um meinen Kopf nach links zu bewegen und meinen Nachbarn, im gelbblauen Eintracht Braunschweig-Trikot gekleidet und mit einem seiner zwei Ohren am Radio, nur noch diese eine Frage zu stellen: "Steht's immer noch 4:3?" Danach sacke ich wieder in mich zusammen. Seine Antwort, dass er es glaube, aber eigentlich nicht den richtigen Sender drin habe, da er vorher in seinem Leben noch nie so viel Schlager hörte wie an diesem Tage usw., vernehme ich nur noch aus weiter Ferne. In Frankfurt steht es 4:3...

Die heiße Phase der WM in Asien wurde eingeläutet. Mittlerweile versuchten uns die Eintracht-Verantwortlichen, allen voran Volker Sparmann, damit zu beruhigen, dass man zuversichtlich sei, pünktlich zum Abgabetermin, Unterlagen bei der DFL-Zentrale abgeben zu können, die uns doch noch die so erhoffte Lizenz ermöglicht. Es war irgendein Achtel- oder Viertelfinalspiel der englischen Nationalmannschaft. Und es war der Samstag vor dem alles entscheidenden Montag, der von der DFL als letzte Frist für das Lizenzierungsverfahren bestimmt wurde. Wir saßen im Frankfurter Westend im English Pub. Wir, das waren verzweifelte Eintrachtfans und Axel, Vize des Vereins, der zu diesem Zeitpunkt mehr Panik vor der angekündigten Fan-Demo am folgenden Tag auf dem Römer, als vor dem Gang zur DFL am Montag hatte. "Jungs, es fehlen nur noch Zusagen für wenige tausend Euro, dann haben wir die Lizenz. Falls Ihr morgen am Römer seid, beschwichtigt dort die Fans. Nicht dass es dort zu unschönen Szenen kommt... - die Lizenz ist sicher!" Um uns herum hunderte von englischen Gastarbeitern, die Tod und Teufel schwitzten. Uns war das, was über die Fernseher aus dem fernen Asien übertragen wurde, so ziemlich schnuppe. In Frankfurt steht es 4:3...

Während der Typ links neben mir mittlerweile alle Schlagerhits von Karel Gott und Vicky Leandros rauf und runter beten kann, schien meine zweite, ach was sag ich, vierte Informationsquelle zu verstummen. Rechts von mir stehen ein paar Jungs - ich vermute Hannover 96 oder Wolfsburg-Fans, geben sich aber, rein aus Selbsterhaltungstrieben, nicht als solche zu erkennen - die durch Freunde, die sich den letzten Spieltag auf Premiere anschauen, per SMS über die Ergebnisse aus den anderen Stadien informiert werden. Ich brauche sie nicht zu fragen, es genügt ein verzweifelte Blick in ihre Richtung. "Nee, noch nichts aus Frankfurt gehört (...)" In Frankfurt steht es 4:3...

Die Bombe schlug ein! Ausgerechnet die im Vorfeld als wasserdicht angesehene HELABA-Bürgschaft, sorgte für Misstrauen bei den DFL-Funktionären und diente als Begründung für den "endgültigen" Lizenzentzug! Schock! Wir standen ziemlich gelackmeiert und mit leeren Händen da! Die Lizenz war doch sicher? Wieso jetzt doch nicht? Das gibst doch nicht! Wo ist die nächste Autobahnbrücke? Es folgte ein, für nicht Eintrachtfans, bestimmt unterhaltsames Gerichtsmarathon. Für uns, für die diese schwarz-weiße Fahne mit dem roten Adler in der Mitte ungefähr den Stellenwelt einnimmt, wie für die christliche Welt das Abbild der Jungfrau Maria, war das allerdings überhaupt nicht unterhaltsam. Es war ein Albtraum! Ein Albtraum, in dem wir von grässlichen DFL-Monstern mit ihren furchteinflößenden Fratzen getreten, bespuckt und gedemütigt wurden. Gut nur, dass das Drehbuch für diese schlaflosen Nächte offenbar in Hollywood zu Papier gebracht wurde! Anders ist es nicht zu erklären, dass auf einmal, scheinbar aus dem Nichts, ein brillentragendes immerzu grinsendes Wesen - wir nennen es der Einfachheit wegen mal Schickhardt - mit den großen, zu Paragrafen geformten Schwertern, die Ungeheuer aus der Otto-Fleck-Schneise und der Münchner Vorstadt in die Knie zwang! Die Nachricht vom Schiedsspruch, der uns die Lizenz dann doch noch unverhofft einbrachte, erreichte mich damals in ... Braunschweig! Da wusste ich natürlich noch nicht, dass sich der Kreis gut zehn Monate später genau dort wider schließen sollte. In Frankfurt steht es 4:3...

Ich werde angeschrien, gerüttelt und getreten, die Jungs neben mir erhielten gerade eine SMS: Frankfurt führt 5:3! FRANKFURT FÜHRT 5:3!!! Kurz nachgerechnet, reicht nicht. Das Lebensbejahende war in mir schon längst erloschen... Nun bestätigt es auch der Stadionsprecher, während die Mannen, die gerade noch ein Auswärtsspiel mit 4:1 für sich entscheiden konnten, im Mittelkreis verzweifelt in ihre rotweißen Trikots beißen, hochoffiziell "In Frankfurt läuft das Spiel noch in der Nachspielzeit. Dort steht es 5:3 für Frankfurt. Wir informieren sie umgehend, wenn das Spiel dort beendet ist" Der Fußballgott ist echt ein Komiker. 5:3! Ein Ergebnis, dass in jedem Eintrachtfan seit 44 Jahren höchste Glücksgefühle auslöst. 5:3, das bisher geilste aller geilen Ergebnisse! Und nun? Für was steht nun das 5:3? Für tragisches Scheitern! Das große 5:3 von den Pfaffs und den Sztanis bis in alle Ewigkeit hinweggefegt durch so ein profanes, belangloses, unbedeutendes 5:3, das in Zukunft nur noch dafür steht, am letzten Spieltag den Aufstieg gegen einen Absteiger in die Amateurklasse jämmerlich vergeigt zu haben. In Frankfurt steht es 5:3...

Lizenz gerettet, aber einen Trainer, der seit zwei Jahren aus dem Geschäft war und eine Truppe, teils zusammengesetzt aus der enttäuschenden Eintracht-Truppe des Vorjahres und der aufs Abstellgleis geschobene Spieler anderer Vereine. Wir konnten froh sein, überhaupt noch im Kicker-Sonderheft als Mannschaftsfoto aufgeführt zu sein. Klar, eine große siegreiche Saison war nicht zu erwarten. Kampf gegen den Abstieg, gerade bei diesem Auftaktprogramm gegen drei aus der Bundesliga abgestiegenen Mannschaften aus Pauli, Freiburg und Köln, gerade mal kurz unterbrochen von dem Spiel gegen die ambitionierten Fürther. Nach dem vierten Spieltag stehen wir immer noch mit null Punkten da. Es wurden neun! Einzig in Köln verloren wir, trotz der meiner Ansicht nach besten Saisonleistung. Wir überwinterten auf einen Aufstiegsplatz! Ein Wunder! In Frankfurt steht es 5:3...

Ich starre auf die Braunschweiger Videowand, die Protagonisten auf eben dieser, kleben mit ihren Augen an den Monitoren, die auf den Anstoßkreis des Spielfeldes getragen wurden. Auf diesen Monitoren scheint die vom Stadionsprecher angesprochene Nachspielzeit in Frankfurt zu laufen. Oh Gott, Naheinstellung von Thurkdusau. Gleich wird er mit geballter Faust laut schreiend auf die Blöcke seiner Fans zurennen, wird sie abklatschen, küssen, auf den Zaun den Affen machen. Und wieso? Nur weil der Pole in Oberhausen das verdammte leere Tor nicht traf! Was mach ich hier? Wieso bin ich nicht schon längst an die nächste Bierbude und sauf mich besinnungslos (das Bier in Braunschweig war immerhin alkoholhaltig). So besinnungslos, dass ich ein Jahr ins Koma falle, danach kurz die Augen öffne, um mich zu vergewissern, dass die Eintracht endlich wieder auf- und Thurkdusau als Lachnummer der 1. Liga wieder abgestiegen ist. Es geht nicht. Mein Geist will zwar, mein Körper aber nach den vier Toren von Auer längst zu Salz erstarrt. Ich beschließe an dem Platz, von dem ich regungslos das Geschehen im Stadion wahrnehme, zu sterben. Hoffentlich weiß meine Frau, dass ich dort nicht auch noch beerdigt werden will! Sondern unter dem Tor meine letzte Ruhe finden will, auf das Holz sein Sitzkopfballtor gegen Bukarest, Schaub (Legenden sterben nie!) das Siegtor gegen Gladbach, Binz das 2:0 gegen Saarbrücken, Jay Jay sein Weltklassetor gegen Kahn und überhaupt die Eintracht alle fünf Tore gegen Kaiserslautern erzielte. Hoffentlich weiß das meine Frau, denn ich vergaß meinen letzten Willen im Testament festzuhalten. In Frankfurt steht es 5:3...

Es ist ja nun wirklich keine traditionsreiche Auseinandersetzung. Dazu gab es das Duell in der Vergangenheit gegen Mainz einfach zu selten. Tradition hat allenfalls die Schiffstour zur Bruchbude. Innerhalb der illustren Reisegruppe, die diesmal zum vermeintlich entscheidenden Spiel um den Aufstieg über den Main schipperte, war klar, wer nach dem Spiel auf einem Aufstiegsplatz steht, der steigt auch auf. Dazu würde uns das Standard-Ergebnis reichen. Ein Unentschieden. Danach sah es auch lange Zeit aus, bis auf einmal, es war wohl in der 89. Minute, der Schiri auf Freistoß für Mainz entschied. Ausgeführt, Nikolov lässt abprallen, Auer zur Stelle, Entsetzen! Pures Entsetzen! Nächstes Jahr Regensburg, Burghausen und Unterhaching. Das nächste Heimspiel, 4:1 gegen Mannheim, nahm ich eigentlich nur noch Schulterzuckend zur Kenntnis. Vielleicht hilft uns ja ein Wunder, am besten schon beim Mainzer Gastspiel in Ahlen! Aber so wie die Rückrunde bisher für uns verlief, insbesondere bei den Heimspielen, steigt dann wohl eher Fürth auf. Andere, beispielsweise ein gewisser Jens, sah die ganze Sache durchaus positiver. Er rief auf der Eintracht-Internetpage dazu auf, man möge Werner "Beinhart" Lorant mit Tonnen von Äppler eindecken, wenn seine Jungs den Sieg gegen den Karnevalsverein erringen. In einem dramatischen Spiel schafften sie es tatsächlich! Ehrensache, dass Lorant nun das gude Stöffche zu bekommen hat. Mit 40 Kisten Possmann fuhren wir nach Ahlen. Auf der Ahlener Geschäftsstelle war man sichtlich begeistert, dass wir unser Wort gehalten hatten. Selbst Lorant, der gewöhnlich nur grimmig dreinschauend seine Umwelt zur Kenntnis nimmt, war, untermalt durch ein Lächeln (!), hocherfreut beim Anblick der Lieferung! Die Ahlener Spieler unterstrichen für uns glaubhaft, dass sie schon vor ihrem Spiel von der Äppler-Aktion erfahren hatten, die richtige Motivation, um uns Schützenhilfe zu leisten. Sie werden, abzüglich der zwei Kisten, die Lorant für seine "Schwiegermutter" im Kofferraum seines SLK verschwinden ließ, nach einem erfolgreichen Spiel in Mannheim, den Äppler auf der Rückfahrt genüsslich leeren. Lorant unterdes, stellte uns gegenüber klar, was er von seinem Kollegen aus der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt hält: "Der Klopp? Der ist doch Offenbacher!" In Frankfurt steht es 5:3...

Ich starre schon eine halbe Ewigkeit auf diese verdammte Videotafel. Auf einmal, was war das? Was ist denn jetzt los? Bin ich jetzt ein Opfer von Halluzinationen??? Klopps Gesicht erklärt eigentlich alles, ich vermag es aber nicht zu interpretieren. Andere brechen in sich zusammen! Mein Gott... Ist es möglich? Blick auf die Mainzer Blöcke - Stille! Absolute Stille!!! Ich träume, da ich wohl schon unbemerkt sanft erschlummert bin und befinde mich nun ganz offensichtlich in Andy im Wunderland. Gleich werden weiße Kaninchen und Skatkarten über das Spielfeld feixend tanzen und eine unsichtbare Grinsekatze mir die Stinkekralle zeigen, um deutlich erkennen zu geben, dass ich mich mittlerweile in einer anderen Realität befinde. ****! Wie steht es in Frankfurt???

In meinen Freundeskreis erntete ich bestenfalls Kopfschütteln gepaart mit ungläubigen Blicken (in etwa der Art, als wenn man behaupten würde Napoleon zu sein und bei nächster Gelegenheit Wellington in seinen fetten britischen Arsch treten wolle), als ich - durchaus zögernd - meinen Entschluss preis gab, dass ich beim letzten Saisonspiel der Eintracht gegen Reutlingen nicht im Waldstadion anwesend sein werde. Zumindest nicht physisch.

Es war aus familiären Gründen bereits länger geplant ausgerechnet an diesem Wochenende, an dem dummerweise der letzte Spieltag in den Fußball-Bundesligen anstand, in Norddeutschland zu sein. Normalerweise würde mir das natürlich nicht passieren, aber unglücklicherweise ist mir die absolute Unkenntnis des Spielplanes zu eigen. Das geht sogar so weit, dass mir öfters auf dem Weg ins Stadion nicht immer ganz klar ist, gegen wen die Eintracht eigentlich spielen wird (erstaunlich genug, dass ich überhaupt weiß, dass die Eintracht spielt...). Bei Auswärtsspielen habe ich dieses Problem Gott sei Dank nicht. Denn Pferd ruft mich meist rechtzeitig an, ob ich am soundsovielten für das Spiel beim Wasweißichwem noch Karten bräuchte. Nun, erst bei der Urlaubsabsprache im Büro, wurde mir das ganze Dilemma bewusst "Bist Du gegen Reutlingen nicht da???" Schwitz, ausgerechnet gegen Reutlingen nicht da? Nein, kann ja wohl nicht sein! Wird auch nicht sein! Ich setze mich am Sonntag in den ICE und fahr zum Spiel in Frankfurt ein. Damit war für mich das Thema erledigt! Erledigt? Spielt da nicht noch Braunschweig gegen den Karnevalsverein? Bin ich nicht zufälligerweise an diesem Tag in Braunschweig? Schwachsinn! Was soll ich da? Erledigt!

Spätestens nach dem Spiel in Oberhausen war klar, dass das für mich nach dem Mainz-Spiel Unvorstellbare Realität wurde. Wir haben es am letzten Spieltag selbst in der Hand! Und diese Saison begann eigentlich schon mit einem Happyend! Ein Happyend, von dem ich erfuhr, als ich in Braunschweig war. Und jetzt könnte die Steigerung eintreten. Keinen Gedanken daran verschwendet, nicht bei der Eintracht zu sein! Seit dem ich zur Eintracht gehe, war ich bei allen entscheidenden Spielen im Stadion, ob UEFA-Cup, DFB-Pokal, Spiele gegen den Abstieg, um den Aufstieg, Relegation usw. Und jetzt? Bin ich komplett wahnsinnig oder einfach nur total abergläubig??? Beides schließlich Eigenschaften, die ja bekanntlich ziemlich untypisch für einen Fußballfan sind...

Bis Mittwoch vor dem Spiel war ich sicher, dass ich in Frankfurt sein muss - orderte aber schon vorher auf Verdacht bei Freunden eine Karte für das Braunschweig-Spiel. In der schlaflosen Nacht zum Donnerstag stand mein Entschluss fest. Wenn ich in Frankfurt bin, vergeigen wir den Aufstieg... Die Saison begann mit meiner Anwesenheit in Braunschweig, also muss sie dort auch enden! Alles wird gut!

Am Spieltag im Stadion angekommen, gaben sich doch einige Leute als Fans der Frankfurter Eintracht zu erkennen. Meist aus der näheren Umgebung (wir sind überall!), die keine Karten mehr für das Reutlingen-Spiel bekommen haben. Einige kamen allerdings direkt aus Frankfurt, welche Intention die hatten in Braunschweig zu sein, blieb mir allerdings unklar. Waren die etwa auch bei der Lizenzentscheidung in Braunschweig? Keine Ahnung. Ein Fan, aus Frankfurt "Bernem", hatte, so meinte er zumindest, einen direkten SMS-Draht zu Lizenspieler-Betreuer Falkenhain (!!!). Ohne mir darüber nähere Gedanken zu machen, wie Falkenhain es von der Spielerbank in Frankfurt bewerkstelligt, ihn mit einem SMS-Ergebnisdienst zu versorgen, erklärte ich ihn kurzerhand zu meiner ersten Informationsquelle. Er war später glücklich, dass meine zweite Informationsquelle, nämlich der direkte Handykontakt zu mehreren Leuten im Waldstadion, zumindest noch in der ersten Halbzeit halbwegs funktionierte. So war er wenigstens auch über die Zwischenstände aus Frankfurt informiert...

Das Braunschweiger Stadion platzte natürlich aus allen Nähten. Die ganze Stadt trug an diesem Tag blaugelb! Es herrschte die Zuversicht, dass die Mainzer geschlagen und der Klassenerhalt gemeistert werden kann. Einziges Unbehagen herrschte über den Spielausgang in Karlsruhe. Für den Ligenverbleib der Braunschweiger war eine Niederlage des KSC zwingend notwendig. Aber man hoffte, dass sich die Fürther schon nicht hängen lassen werden. Nun, das sorgte natürlich bei mir für ein flaues Gefühl im Magen, denn wenn meine Eintracht so ein blödes Unentschieden gegen Reutlingen präsentiert, und bei den ganzen Remis im Waldstadion während der Rückrunde, war das ja durchaus im Bereich des Möglichen, wären die Fürther der lachende Dritte...

Beim Einlauf der Mannschaften, bot sich für mich ein doch durchaus ungewohntes Bild. Denn war ich es bisher gewohnt, dass Choreos meist ihren Mittelpunkt in den Fanblöcken haben, fand diese in Braunschweig auf der Haupt- und Gegentribüne, nicht aber in der Eintrachtfan-Kurve statt! Es sollte nicht der einzige Aha-Effekt an diesem Spieltag bleiben.

Nach wenigen Minuten schien bereits alles nach Plan zu laufen! Nach der frohen Kunde aus Frankfurt, dass es 1:0 steht, erzielten die Braunschweiger ein Tor. Während ich realisieren musste, dass das Tor, wieso auch immer, nicht gegeben wurde, erreichte mich zeitgleich das 1:1 für Reutlingen... Kurze Zeit später das Führungstor durch (ich nenn ihn jetzt nur einmal, dann nie wieder) Auer. Erster Schock, aber eigentlich noch nichts passiert... Der zweite Schock saß deutlich tiefer, als die Mainzer nach knapp 20 Minuten mit 2:0 davoneilten. Von der Braunschweiger Eintracht sah man nichts mehr. Die Braunschweiger Fans um mich herum, konnten sich auch nicht so recht daran erinnern, wann ihre Truppe das letzte Mal drei Tore im heimischen Stadion erzielte. Die Messe war, zumindest in der Abstiegsfrage, für den norddeutschen Traditionsverein gesungen... Ich flehte alle mir bekannten Götter an, dass sie sich jetzt nicht noch abschlachten lassen. Aber genau das passierte in der zweiten Halbzeit! In Kenntnis über die 3:1-Führung der Adlerträger, spielte sich das Geschehen nur noch vor dem Braunschweiger Kasten ab. Die Braunschweiger Fans, bewusst geworden, dass der Abstieg besiegelt schien (mittlerweile führte auch der KSC), interessierten sich fortan nur noch für die Aufstiegsfrage. Im gesamten Stadion, mit Ausnahme bestimmter Blöcke, wurde lautstark "Und ihr, steigt sowieso nicht auf!" gesungen, ach, eigentlich fast schon gebrüllt!

0:3 und keinen Handy-Kontakt mehr nach Frankfurt! Die Reutlinger Tore blieben mir aber dennoch nicht verborgen, da diese durch die Reaktion der etwa 2.000 Mainzer mir ganz persönlich kund getan wurden... 0:4 und zusätzliches zweimaliges Jubeln in der Faschings-Kurve. Ich sackte zusammen. Weltuntergang. Um mich herum tobte die blaugelbe Masse! Es stand 0:4 und es verließ nicht ein Mensch das Stadion! Nicht mal ich, wobei ich dazu allerdings auch körperlich nicht mehr in der Lage war. Die Braunschweiger, und zwar alle (!!!), feuerten ihre Truppe an, standen ohne Ausnahme bei "Steht auf wenn ihr Löwen seid" und zeigten den Mainzern verbal auf, wer bisher Fußballgeschichte geschrieben hat: "Nie Deutscher Meister, ihr wart noch nie Deutscher Meister!". Immer wieder peitschte es aus allen Kehlen "Eintracht, Eintracht!" Wenn ich mit meinen Gedanken nicht schon sonst wo gewesen wäre, hätte ich aufgrund der Stimmung bei DIESEM Spielstand schon längst mein Gänsehaut-Feeling gehabt! Es ging mir aber am Arsch vorbei...

Zu unrecht, wie sich aber erst später noch herausstellen sollte. Über 20.000 Braunschweiger forderten von ihrer Mannschaft lautstark "Und zum Abschied, schenkt uns noch ein Tor!" Das Tor, das ich eigentlich gar nicht mehr richtig zur Kenntnis nahm, weil es mir einfach nur noch egal war, fiel tatsächlich! Und es wurde gefeiert wie die Deutsche Meisterschaft! Erst Stunden später erfuhr ich, dass dieses - für mich zu diesem Zeitpunkt völlig unbedeutende - Tor in Frankfurt Signalwirkung hatte...

Nun schaue ich fassungslos auf das Spielfeld. Klopp stürmt Richtung Haupttribüne in die Katakomben. Spieler in rotweißen Trikots fallen wir vom Blitz getroffen in sich zusammen. Der Mainzer-Präsident heult auf dem Boden sitzend hemmungslos. Irgendwie, ganz langsam, fang ich an zu begreifen! Es muss das Unvorstellbare passiert sein! Aber der Stadionsprecher meldet nichts aus Frankfurt... Verdammt, was ist los? Ich erwache aus meiner Lethargie, stehe auf, taumel zum Zaun. Um mich herum ratlose Gesichter. Ich begreife immer mehr, so feiert man keinen Aufstieg! Nicht mal die Mainzer! Dann die ersten Rufe hinter mir "SECHSZUDREI! 6:3!!!". Ich traue dem nicht. Ich will dem nicht trauen. Immer mehr Gebrülle hinter mir: "Das gibt's nicht, die Frankfurter haben es gepackt!!!". Die ersten Braunschweiger stürzen auf mich zu, gratulieren mir, umarmen mich, tanzen mit mir "Ihr seid aufgestiegen!!!" Ich reiße mich los, renn wir ein Irrer durch den Block, mindestens 750 Kilometer in Sekundenbruchteilen! Die Braunschweiger fallen unterdessen auf alles was Frankfurt-Trikots an hat freudestrahlend ein. Ich häng am Zaun, lieg am Boden, heule, schreie, bin einfach nur überwältigt! Stammel vor mich hin, das gibt's nicht, das gibt's nicht, das kann doch nicht, nein, das glaub ich nicht, WAHNSINN!!! Ich flehe mein Handy an! Kein Durchkommen nach Frankfurt, nur die blöde Mailbox an! Es muss wahr sein, es kann nur wahr sein, ja, ich will jetzt einfach, dass es wahr ist!!! WIR SIND AUFGESTIEGEN! Ich klettere auf den Zaun und schreie es in Richtung Mainzer Kurve. Renne aus dem Stadion raus und wieder rein, wieder auf den Zaun, über den Zaun, renne in das Tor, in DAS TOR! Erkläre es heilig, klammere mich ans Tornetz, schreie, jubel, tanze. Um mich herum bemerke ich aus dem Augenwinkel die panischen Ordner. Egal, sollen sie mich abführen und mir für die nächsten hundert Jahre Stadionverbot erteilen, ich habe jetzt meinen ganz persönlichen Platzsturm! Aber sie interessieren sich überhaupt nicht für mich. Um mich herum sind bereits einige hundert Braunschweigfans auf dem Platz. Sie feiern. Keine Ahnung was. Ihren Abstieg, unseren Aufstieg? Egal! Weitere tausend sind gerade dabei die Fluchttore zu stürmen und wenige Augenblicke später auch auf dem Platz! Verbrüderungsszenen zwischen Frankfurter und Braunschweiger Eintrachtfans an der Stelle, wo wenige Minuten zuvor Mainzer Spieler ins Tal der Tränen stürzten. Erst jetzt schießt es mir durch den Kopf: Was, was, um alles auf der Welt, muss eigentlich in Frankfurt jetzt gerade abgehen, und vor allem, was ist da eigentlich passiert??? War da überhaupt noch irgendwer im Stadion, oder setzte nach dem 3:3 die große Flucht aus dem Stadion ein? Wer erzielte wann die Tore? Läuft am Ende noch das Spiel und die Reutlinger schießen in diesem Augenblick das vierte Tor??? Schwachsinn! Wir haben es geschafft!!! JAAAAAAAAAAAAAA!!!

Danke, Gaff!


Rigobert_G (Andy Klünder) verfasste diesen Betrag ursprünglich für "Fan geht vor"


 

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