17.12.2007 Farbenspiele Jetzt ist die erste Halbserie gespielt und die ersten Aufgeregtheiten liegen hinter uns. Wie bewertet man den bisherigen Verlauf, wo geht es hin in der Rückrunde? Einbeziehen muss man zwangsläufig in solche Überlegungen auch den Beginn des Weges, also den Ausgangspunkt und wenn man schon einmal zurückblickt, geht der Blick auch noch weiter in die Vergangenheit… Geschichtsinteressiert kann man dann letztendlich auch fragen: Wo kommt sie denn überhaupt her, die Eintracht? Ich empfehle hierzu dringend einen Gang in das neue Museum im Stadion; dort kann man viel davon erfahren, wenn man sich etwas Zeit nimmt und versucht, hinter die Geschichten der Ausstellungsobjekte zu kommen. Es stellt sich dann aber auch vielleicht die Frage, wo
die Eintracht eigentlich ist, also wo sie greifbar und spürbar ist
und nicht nur zu besichtigen durch das Lösen einer Eintrittskarte
und durch das Bewundern von Fußballtricks, Mannschaftsgeist und
Zuschauerbegeisterung. Ein Teil meiner Antwort steckt in der Geschichte, die mir schon längere Zeit im Kopf herumgegangen ist und die ich jetzt aus privatem Anlass aufgeschrieben habe. Für diejenigen, die Lust haben, sich darauf einzulassen: Wo ist die Eintracht? „Richtig! Blau ist die Lösung!“, rief der Moderator mit gehobener Stimme im Gesundheitsquiz des hessischen Fernsehens. „Sie haben sich richtig entschieden. Blau ist die Farbe der Entspannung. In der chinesischen Naturheilkunde werden Farben nachgewiesenermaßen schon seit mehr als 2.000 Jahren zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Probieren Sie es aus! Es soll schon genügen, wenn man die Augen schließt und sich die Farbe Blau einfach nur vorstellt. Machen Sie selbst den Versuch, es lohnt sich!“ Aha, jetzt wusste ich endlich auch, warum ich schon manchmal Künstler gesehen hatte, die Brillen mit blauen Gläsern trugen; das war offensichtlich nicht bloß ein Modegag, sondern es steckte mehr dahinter. Einige Zeit später habe ich dann auch einmal den Versuch gemacht; es ist ja nicht schwer, sich in einer ruhigen Minute zu Hause kurz auf das Sofa zu legen, die Augen zu schließen und sich dann vorzustellen, die gesamte Umgebung sei blau eingefärbt. Für besonders entspannungsbedürftig halte ich mich zwar nicht, aber es kann ja nicht schaden, wenn man schon für kommende schlechte Zeiten ein kleines, erprobtes Gegenmittel zur Verfügung hat. Einige Minuten später musste ich aber leider feststellen, dass sich die erhoffte Wirkung nicht einstellen wollte. Vielmehr passierte folgendes: Immer dann, wenn es mir gelang, bei geschlossenen Augen die im Hintergrund erscheinende Fläche gedanklich ganz allmählich blau einzufärben, schob sich gleich von rechts oben eine kleine weiße Ecke störend ins Bild und das entstehende blau-weiße Gesamtbild verursachte ein ganz unangenehmes Kältegefühl im Nacken – von Entspannung keine Rede, eher Verkrampfung und Abneigung. Konzentrierte ich mich dagegen ganz stark darauf, diese kleine weiße Ecke fernzuhalten, - und das gelang dann auch tatsächlich - hatte ich aber keinerlei zusätzlichen Energien mehr, um zu verhindern, dass sich die blaue Fläche von unten her wie durch Geisterhand in der gesamten Breite schwarz eingefärbte und auch dieses blau-schwarze Gesamtbild wirkte leider sehr unangenehm. Wahrscheinlich, weil es mich irgendwie an Bielefeld erinnerte, woran mich blau-weiß erinnert, will ich hier gar nicht aussprechen. Der Entspannungsversuch missglückte also gründlich. Nun ist es aber trotzdem nicht so, dass ich annehme, der Fernsehmoderator hätte in seiner Sendung einfach nur irgendeinen Unsinn erzählt, um seinen Programmplatz zu füllen. Farben haben schon – natürlich auch für mich - unzweifelhaft enorm wirkende Effekte, und auch Ergebnisse im Entspannungsbereich kann man damit ganz bestimmt erzielen; ich habe das auch schon selbst erlebt, nur eben mit anderen Farben. Vielleicht hat der Quizmoderator aus Vereinfachungsgründen in seiner Sendung auch bloß nicht erwähnt, dass in der chinesischen Naturheilkunde auch gelehrt wird, es gebe individuelle Komponenten, die eventuell genetisch oder sozialisationsbedingt ganz andere Wirkungsweisen und Wirkungszusammenhänge verursachen. Also bei mir ist es nämlich ganz klar die Farbkombination schwarz–rot, wobei die Farbschichten allerdings eher nebeneinander als übereinander angeordnet sein müssen. Beide Farben haben ein unterschwelliges Zusammenwirken von Lebendigkeit, Kraft und tiefer Ruhe, das mir im Gesamtbild sehr harmonisch erscheint. Wenn die beiden Farben nebeneinander stehen, ist auch keine zu dominant, um den Eindruck zu stark zu prägen. Bei einer bestimmten Situation im Sommer konnte ich das sehr deutlich zu spüren: Wie alle anderen guten Kinder spielt mein Sohn natürlich ab und an im Garten mit ein paar Kumpels Fußball; das ist auch richtig so, denn Bewegung an frischer Luft ist gesund und Bewegungsarmut ist heutzutage gerade bei Kindern ein großes Problem. Also freue ich mich, wenn er den Ball herausholt und loslegt. Regelmäßig ereignet sich dann auf unserer Rasenfläche eines dieser unerklärlichen Vermehrungswunder; aus drei Kindern werden plötzlich fünf, dann sieben, dann raschelt es noch einmal im Gebüsch und schon stehen zwei Teams zu je fünf Mann auf dem Platz. Ich habe also eine solche Gelegenheit vor einigen Wochen einmal beim Schopf gepackt und sämtliche Eintrachttrikots und -T-Shirts, die ich im Laufe der Zeit für meine beiden Kinder angeschafft hatte, herbeigeholt und leihweise an die kleinen Kicker verteilt. Ein Bild für die Götter - jedenfalls für
die Sportgötter, Fachsparte Fußball! Zehn Jungs in verschiedenen
Eintrachttrikots, alle mit hohen schwarz–roten Farbanteilen, hochaktiv
einem Ball nachjagend, schießend, grätschend, köpfend,
jubelnd - alles war dabei. Ich kann die Wiederholung dieser speziellen Versuchsanordnung jedem nur dringend empfehlen. Der erreichte Zustand war insgesamt angenehm und hielt auch längere Zeit an - jedenfalls so lange, bis meine Frau mich aus der Tiefe des Raums heraus beherzt ansprach und vorschlug, etwas zur Rettung verschiedener, gerade aktuell aussterbender Blumenarten zu unternehmen. Nach ihren Vorstellungen sollte ich zunächst der Büffelherde auf dem Rasen etwas Einhalt gebieten und dann die trampelnde Horde auf die Naturschutzzonen hinweisen; anschließend war es meine Aufgabe, wieder aktiv in das Gartengeschehen einzugreifen, wobei sie mir auch freundlicherweise diverse Utensilien, wie zum Beispiel Spaten, Rechen, etc. zur Verfügung stellte. So verging der schöne Augenblick schneller als gedacht, aber die schwarz – rote Entspannungswirkung war doch ganz klar zutage getreten. Ist doch klar, dachte ich im Nachhinein, ich bin ja Eintrachtfan, da muss diese Farbkombination ja eine Wirkung haben. Oder ist es etwa umgekehrt? Habe ich grundsätzlich eine Affinität zu diesen Farben und bin genau deswegen geradezu zwangsläufig Eintrachtfan geworden? Wer weiß. Es kommt sicher öfter vor, dass man Ursache und Wirkung in der Nachbetrachtung nicht mehr genau genug voneinander trennen kann. Die angesprochene wohltuende Wirkung bemerke ich jedenfalls insbesondere regelmäßig dann, wenn ich nach langer Anfahrt endlich das Waldstadion erreicht habe oder wenn bei Auswärtsspielen – quasi im farblichen Feindgebiet – die Mannschaft zum Warmlaufen auf das Feld kommt und selbst wenn sie dann dort ab und zu einmal andersfarbige Trikots trägt, habe ich gar keine Schwierigkeiten, die Augen zu schließen und mir schwarz–rot vorzustellen. Bei mir spielt die Eintracht eigentlich gedanklich sowieso immer in schwarz-rot. Das ist schon so, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Das Betreten des Platzes durch die Mannschaft ist bei mir ohnehin immer erst ein Moment des Innehaltens, bei dem gleichzeitig eine tiefe Zufriedenheit aufkommt. Auch schon bei dem Warmlaufen, lange vor dem Spiel; die Begegnung des Tages selbst, tritt in solchen Momenten zunächst erst einmal weit in den Hintergrund. Richtig wach, aufmerksam und leider auch nervös werde ich dann wieder erst wieder zum Anpfiff, wenn der Ball rollt. Es scheint da also etwas tief verankert zu sein, etwas was auch unterhalb der Bewusstseinsebenen eine Wirkung entfaltet. Vielleicht kann man daran auch feststellen, dass der Grad der Identifikation sehr hoch ist. Wie übrigens nicht nur der Grad der eigenen Identifikation als hoch bezeichnet werden kann. Erstaunlich ist nämlich auch, wie oft man als Person von Anderen mit dem Thema „Eintracht“ besetzt wird, obwohl man doch auch in zahlreichen anderen Rollen auftritt. Ich bin doch z. B. auch Ehemann, Vater, Sohn, Enkel, Vorgesetzter, Kollege, Trainer, Verhandlungsgegner, Kunde, Patient, Antragsteller, etc... Wahrscheinlich aber bietet die Facette "Eintrachtfan" für viele Gesprächspartner eine sehr einfache Einstiegshilfe und wird deshalb entsprechend oft benutzt; bei männlichen Gesprächspartnern übrigens auch deutlich häufiger. Wie verblüffend weit dies gehen kann, habe ich vor Jahren selbst in einer tiefgehend emotionalen Familiensituation erlebt: Es war die Zeit Mitte der 90er Jahre, in der mein Großvater in hohem Alter ganz allmählich zwar zunächst nicht körperlich abbaute, dafür aber geistig immer mehr in sich selbst verschwand, erst manchmal kurzzeitig die Präsenz verlor, dann aber in immer längeren Phasen nicht mehr am äußeren Leben teilnahm und schließlich nur noch in ganz wenigen lichten Augenblicken von Außenstehenden erreicht werden konnte. Er antwortete dann gar nicht mehr auf Fragen, schaute oft lange Stunden aus dem Fenster oder einfach nur im Zimmer umher, manchmal las er etwas oder saß einfach nur da, machte dabei aber insgesamt keinen unglücklichen Eindruck, sondern wirkte eben nur abwesend. Er war früher – nur um den Zusammenhang darzustellen – neben Anderem auch sehr am Fußball interessiert gewesen, aber auf ganz andere Art als ich, er spielte nämlich immer die Fußball-Elferwette und 6 aus 45, hantierte immer mit Tippzetteln und Totoscheinen und wog die Kräfteverhältnisse der Mannschaften anhand der früheren Spielergebnisse ab, ging dabei nie ins Stadion, sondern studierte nur die Tabellenstände und sah sich die Sportschau an. Weil er in Berlin gelebt hatte und mit der Hertha sympathisierte, gab es zwischen uns die fußballüblichen Frotzeleien, natürlich immer auf freundlich-friedlichem Niveau zwischen Großvater und respektvollem Enkel. Als ich Jahre später als Erwachsener beruflich und familiär in eine andere Region Deutschlands verschlagen wurde, wurden die Kontakte selten und beschränkten sich auf einige Telefonate und ein bis zwei Besuche im Jahr. Einen Höhepunkt stellte in dieser Zeit der Nachmittag dar, an dem ich in seine Geburtstagsfeier hinein anrufen und ihm die Geburt seiner Urenkelin am gleichen Tage melden konnte; natürlich flossen da reichlich Tränen der Rührung. Besorgniserregend waren dann aber die Anrufe, die mich im Herbst 1996 erreichten. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, jetzt auch körperlich, erst langsam, dann rapide. Es wurde höchste Zeit für mich, ihn noch einmal aufzusuchen. Mir gelang es dann auch, ihn an drei aufeinanderfolgenden Tagen - jeweils für etwa eine Stunde - zu besuchen. Es gab dabei nicht viel zu tun, er nahm offenbar nicht mehr viel wahr und zeigte keine Reaktionen auf meine Anwesenheit, wie übrigens auch sonst nicht auf die Anwesenheiten anderer Familienmitglieder. Er sprach auch nicht. Meine Eltern sagten, im Prinzip habe er schon seit Monaten nicht mehr gesprochen, alle paar Wochen bloß einen Satz in einem wachen Moment. So blieb mir nur, bei ihm zu sitzen, langsam zu berichten, von meiner Familie und mir, ihm ein paar Bilder zu zeigen und ansonsten einfach nur eine Zeit lang da zu sein. Ich wusste gar nicht, ob er mich erkannte oder überhaupt wahrnahm. Sein Blick jedenfalls ging irgendwo hin, irgendwo ins Leere. So lief es bei dem Besuch am ersten Tag und am zweiten Tag – die Eintracht verlor übrigens 1:3 in Gütersloh - und auch zu Beginn des dritten Tages. Als ich an diesem dritten Tag in sein Zimmer trat, hatte er allerdings eine Zeitung auf dem Tisch, die Sportseite war aufgeschlagen und ein Bleistift lag dort; gelesen hatte er also wohl, geschrieben aber hatte er nichts. Während ich also wieder begann, ruhig mit ihm zu sprechen, hob er den Kopf und sah mich an. Dann glitt seine linke Hand langsam auf die untere Hälfte der Zeitungsseite; einen Moment später streckte er den Zeigefinger der rechten Hand aus und wanderte damit fast im Zeitlupentempo auf die Tabelle der ersten Bundesliga oben auf der Zeitungsseite. Dann lächelte er ein wenig und fragte mich mit leiser Stimme: „Wo ist die Eintracht?“ Natürlich war mir in diesem Moment zunächst einmal völlig gleichgültig, was er gesprochen hatte, die Tatsache, dass er gesprochen hatte und dass er etwas gesagt hatte, was ganz offensichtlich einen Bezug zu mir gehabt hatte, war wichtig; er hatte mich also wahrgenommen und zwar nicht nur als beliebige anwesende Person, sondern tatsächlich erkannt und natürlich versuchte ich diese Situation zu nutzen und weiterzuführen und antwortete sofort, war bestrebt den Kontakt zu halten, aber ich merkte schnell, dass es schon in diesem Moment wieder vorbei war und dass er schon wieder in seiner Welt verschwunden war; er schaute nur noch leer vor sich hin, gab keine Antwort und zeigte äußerlich keine Regungen und Reaktionen mehr. Ich habe dann seine linke Hand genommen, die noch auf der Zeitung lag und eine Weile gehalten. Zu sagen gab es dann nichts mehr. Als ich nach einiger Zeit seine Hand wieder losließ und er sie etwas an sich heranzog, konnte ich erkennen, dass er vorher offenbar gezielt genau die Tabelle der 2. Liga zugehalten hatte. Unglaublich - da hatte er noch einmal ein wenig Antriebsenergie gehabt und die hatte er dazu benutzt, sich einen kleinen Spaß mit mir zu machen! Nach dem Besuch war ich eher froh als betroffen und zugleich war ich auch gerührt; es war ein innerlich bewegender Augenblick für mich, auch weil ja klar war, dass dies ein Moment des Abschieds gewesen sein konnte. Es war dann schließlich tatsächlich meine letzte Begegnung mit meinem Großvater, zehn Tage später ist er dann abends friedlich eingeschlafen und morgens nicht mehr aufgewacht. Wenn ich im Nachhinein über diese Szene nachdenke, finde ich es immer weniger erstaunlich, dass mein Großvater, diese kleine, sich gerade noch bietende Gelegenheit genutzt hat, ein winziges, fast nur angedeutetes Späßchen mit Hilfe der Eintracht über mich zu machen. Es ist wohl so, dass zwischen uns nichts Besonderes geklärt oder geregelt werden musste oder dass es etwas zu sagen gab, was noch unbedingt gesagt werden musste. Es war eben ein ruhiges, friedliches und freundliches Verhältnis zwischen uns beiden, das hier seinen ebenso ruhigen, friedlichen und freundlichen letzten Moment hatte. Kurios finde ich es, dass selbst in einem solchem Augenblick die Eintracht noch im Spiel war; sie taucht manchmal in Situationen auf, in denen man sie gar nicht erwartet. So, das reicht jetzt, viel zu viel erzählt. Zeit, sich wieder aus den Erinnerungen zu lösen und dem Alltag zuzuwenden. Was ich eigentlich sagen wollte, gerade jetzt, wo das Weihnachtsgeschäft läuft: Lasst euch nicht lumpen, Leute. Kauft euren Kindern kleine Eintrachttrikots und lasst sie auf dem Rasen kicken, wann immer sie wollen. Nehmt euch eure blaue oder schwarz–rote Stunde oder wie immer ihr sie nennt, setzt euch daneben und genießt es. Holt euch das Spiel zurück, vielleicht sogar direkt in den eigenen Garten oder auf die nächste Wiese beim Haus. Vielleicht ist da die Eintracht. owladler hört auch auf den Namen Andreas und hält
die Eintracht-Enklave in Paderborn. |
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