29.06.2007 Wird der Papst evangelisch? Nennt es albern. Nennt es kindisch. Ja, nennt es von mir aus blöde. Aber ich liebe dieses fast tägliche Ritual, bei jedem Ampelstopp in den Rückspiegel zu blicken und mich daran zu weiden, was in einer Vielzahl der Fälle nun mit dem Fahrer hinter mir geschieht: Es scheint gerade so, als sei direkt vor ihm das Auslassventil eines Gülle-Anhängers geplatzt und dessen übelriechend gärender Inhalt ergieße sich plötzlich in vollem Schwalle über seine Motorhaube. Die Metamorphose vom eben noch wohl gelaunt pfeifenden Feierabends-Verkehrsteilnehmer zum fiebergeschüttelten Ebola-Patienten im Endstadium verläuft binnen Sekundenbuchteilen. Zunächst umkrampfen die Hände das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortreten, dann verziehen sich die Gesichtszüge zu einer angewiderten Fratze, die Nasenflügel beginnen unkontrolliert zu vibrieren und die Gurgel pulsiert in rhythmischem Würgen. Der ungeschönte Anblick einer von Ekel gepeinigten Kreatur in vielerlei Nuancierung. Herrlich. Ich fahre ein rotes Auto mit schwarzem Dach. Ich habe ein Kennzeichen mit WI für Wiesbaden. Ich habe einen schwarzen Adler als Aufkleber am Kofferraum. Und ich arbeite in Mainz. Das ist heute. Das ist eine der vielen oft infantilen Spielarten meines Ichs und Bewusstseins als Fan von Eintracht Frankfurt. Doch wie kam es dazu? Zahlen sind nicht mein Ding. Gut, nehmen wir davon einmal die 6 und die 0 aus, wenn diese bei einem Spiel der Eintracht gegen eine immerhin leidlich begabte Rotte von Ballsportlern aus Gelsenkirchen auf dem Videowürfel im Waldstadion erscheinen, aber das meine ich nicht. Ich schicke meine Aversion gegen Numerik auch nur deshalb voraus, um mich für eine Überlegung zu entschuldigen, die mich beim Betrachten unseres Fan-Forums beschlich: Meine Güte, fast 70.000 Eintracht-Fans sind hier registriert. Zieht man die Trolle, die Karteileichen und die „Ich-guck-hier-nurs“ ab, so bleibt doch immer noch ein ausverkauftes Waldstadion an Gleichgesinnten, das sich hier versammelt. Wahnsinn. Viele haben hier ihr persönliches Portrait mit einer Reihe von Angaben hinterlegt, was könnte man damit nicht alles anstellen? Ein Eldorado für Statistiker: Es ließe sich genau erheben, wie viele Fans in Nieder-Zwiebelsbach wohnen, wie hoch das Durchschnittsalter der Registrierten ist, welcher Anteil an Busfahrern sich dort findet und wie viel Prozent der unter 16-jährigen weiblichen Fans „Russ“ unter Lieblingsspieler angegeben haben. All das interessiert mich nicht, es besitzt eine ähnliche Aussagekraft wie die Spielstatistiken, die in der Fernsehberichterstattung von Privatsendern einst Mode war: „Jeder an einem ungeraden Kalenderdatum von links bei Vollmond geschlagene Eckball, der von einem blonden Spieler mit Zahnspange nach der 63. Spielminute auf das Tor geköpft wurde…“ – für die Füße. Aber bei einem Mikrozensus unter uns SGElern lohnte sich für mich in einem Belang der genauere Blick, und zwar bei dem Passus „Eintrachtfan seit“. Scheinbar impliziert dies eine Fülle von möglichen Antworten zwischen „1899“ und „2007“, die sich dann wieder in eine Excel-Tabelle gießen und auswerten ließen. Aber in Wahrheit – und nur deshalb mache ich hier einen solchen Wind und so viele Worte in Bezug auf meine Anfänge als Eintracht-Anhänger – in Wahrheit gibt es nur zwei Antworten. Und diese spiegeln nicht mehr und nicht weniger die beiden Möglichkeiten wider, mit Adlerblut infiziert worden zu sein: Entweder ich kann es an einer Jahreszahl beziehungsweise an einem bestimmten Ereignis festmachen oder ich kann dies eben nicht und war es schon immer. Und ich würde in der Tat gerne wissen, wie sich diese beiden Gruppen anteilsmäßig verteilen. Nur um des Wissens willen, sonst für nix. Einen qualitativen Unterschied im Sinne von „Ich bin der bessere, echtere, wahrere Fan, weil ich es schon länger bin als du“ gibt es nämlich meiner Ansicht nach nicht. Man muss zum Beweis nur die vielen eindrucksvollen Berichte hier vom wichtigen Prozess der Menschwerdung hin zum Eintrachtfan lesen. Welch grandiosen Einschnitt stellt es dar, aus vielleicht vage vorhandener Sympathie oder auch nur Interesse mit ins Stadion genommen worden zu sein, und nach diesem Erlebnis zwei Stunden später als glühender Anhänger am Bahnhof Sportfeld oder am Oberforsthaus wieder das Bewusstsein erlangt zu haben? Insofern dann nicht schon vergorener Fruchtsaft selbiges vernebelte. Mir fehlt ein Schlüsselerlebnis, wie es viele erleben durften. Ich wurde nicht in frühester Kindheit mit ins Stadion genommen und habe dort einen fulminanten Sieg miterlebt. Ich habe keine Verwandten, die mir zur Taufe einen Strampler mit Adler geschenkt haben, und es gab meines Wissens nach auch sonst keinen Initiationsritus, mit dem ich zu meinen roten Haaren auch noch die Farben Schwarz und Weiß verpasst bekommen hätte. Alles, was ich sagen kann, auch wenn dies nach einer Plattitüde klingt, ist: Ich kann mich schlichtweg nicht mehr daran erinnern, kein Eintracht-Anhänger gewesen zu sein. Es ist gerade so, als frage mich jemand, wann ich das erste Mal Spinat gegessen habe. Ich kann mich nicht daran erinnern. Leider gibt es im Gegensatz zu meinem ersten Spinat-Mahl, nach welchem laut gerne kolportierter Darstellung meiner Eltern die halbe Wohnung generalsaniert werden musste, keinerlei Zeugnis von den Anfängen einer Leidenschaft, die mich bis heute in ihren Bann geschlagen hält. Krame ich in den hintersten Stübchen meines Erinnerungsvermögens, so kann ich mir aber doch einige Dinge aus früher Kindheit wieder vergegenwärtigen, die damit im Zusammenhang stehen müssen. Meine Eltern sind beide Eingeplackte, die es Anfang der Sechziger ins Rhein-Main-Gebiet verschlagen hat, und daher kann ich mit einigem Stolz behaupten, ein echter Frankfurter zu sein, denn ich wurde in Sachsenhausen geboren. Ich weiß, ich weiß, ein echter Frankfurter ist man nur dann, wenn man seine Genealogie bis mindestens zu Karl dem Großen an den Main zurückverfolgen kann. Wir haben nach meiner Ankunft auf diesem Planeten auch nur noch ein Jahr in Frankfurt gewohnt und sind dann nach Mörfelden „aufs Dorf“ gezogen. Aber ich fühlte und fühle mich immer als Frankfurter – trotzdem oder gerade deswegen. Ganz ohne narzisstische Hintergedanken darf ich noch kurz bei meiner Geburt verweilen. Knapp drei Monate nach meinem ersten Schrei nämlich, am 14. August 1965, feiert ein gewisser Jürgen G. aus W. sein Debüt im schwarz-rot gestreiften Trikot mit dem Adler auf der Brust. Mir wird es damals egal gewesen sein, ich dürfte zu dieser Zeit hauptsächlich mit schlafen, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung der daraus gewonnen Stoffwechselprodukte beschäftigt gewesen sein. Doch später sollte dieser Mensch noch eine gewisse Bedeutung für mich bekommen. Und auch noch in einem anderen Belang steht mein Geburtstag (leider) in Verbindung mit meinem Verein: es war der 16. Mai. Zu beidem jedoch an anderer Stelle. Die frühen Erinnerungen, von denen ich zuvor gesprochen habe, betreffen die Berichte meines Vaters vom Endspiel in Glasgow. „Die Eintracht hat verloren, aber sie ist mit wehenden Fahnen untergegangen“, sagte er mit einigem Pathos in der Stimme, der mir noch heute im Ohr klingt. Ich weiß auch noch, wie enttäuscht ich von seiner Antwort war, als ich mich danach erkundigte, warum er denn zum Eintracht-Anhänger geworden sei. „Nun“, sagte er, „wir sind eben nach Frankfurt gezogen. Wären wir nach Hamburg gezogen, dann würden wir wohl den HSV unterstützen.“ Wie bitte? Könnte es einen abwegigeren Gedanken geben? Wird der Papst etwa evangelisch, wenn er durch Wittenberg reitet? Niemals im Leben! Aufgewachsen bin ich wie erwähnt in Mörfelden. Über meinem Doppelstockbett im Kinderzimmer, das ich mit meiner jüngeren Schwester teilte, hingen zwei unbeleckte Spielankündigungs-Plakate, die mein Vater mir mitgebracht hatte. Eines vom – Zartbesaitete mögen hier nicht weiterlesen – OFC mit Siggi Held und Erwin Kostedde darauf, das andere von der Eintracht mit Grabi in voller Aktion. Was aus diesen Plakaten, die ich zur Begeisterung meiner Eltern an die Wand genagelt hatte, geworden ist, vermag ich heute nicht mehr zu sagen, aber deren Verlust ist mir inzwischen natürlich äußerst schmerzlich. Und damit ist erneut der Name meines Eintracht-Helden gefallen. Ich habe diesen Moment gefürchtet, denn er rückt mir schmerzlich ins Gedächtnis, dass die Verehrung von Jürgen Grabowski zu einer Zeit zwar nicht gemindert, aber auch nicht ganz ungeteilt war. Ich bin also fremdgegangen, insofern man dies von einem Neunjährigen behaupten kann. Das Ereignis lässt sich ganz klar an einer Jahreszahl festmachen: 1974. Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Wir waren mit dem Auto auf dem Weg zu meinen Großeltern am Rhein, als der Hubschrauber mit dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann zur Eröffnungsfeier Richtung Frankfurt über uns hinwegratterte. Im Wohnzimmer meines Onkels saß die ganze Familie gebannt vor dem damals längst nicht selbstverständlichen Farbfernseher, dessen Fernbedienung mit Ultraschall funktionierte und den man deshalb mit dem Rasseln eines Schlüsselbundes an- und ausschalten konnte. Während eines Spiels drückte mir mein Opa – wie Erwachsene das damals mit Kindern gerne taten – zwei Mark in die Hand und sagte „Geh mir mal ne Schachtel Reval holen!“ Ich hätte sicher nicht widersprochen, aber mein Vater intervenierte zu meiner Überraschung: „Du kannst doch nicht den größten Fußballfan aller Zeiten mitten im Spiel zum Zigarettenholen schicken“. Ich liebte ihn dafür in diesem Augenblick. Doch ich will nicht von meinem Fehltritt ablenken. In jenen Wochen bewunderte ich einen Spieler tatsächlich mehr als alle andere: Gerd Müller. Zum Glück blieb diese Verehrung auf einen kurzen Zeitraum beschränkt. Noch ein Wort zum Fernsehen in einer Zeit, wo jeder Haushalt maximal über einen Apparat verfügte. Auch bei diesem Thema, das möglicherweise den größten Konfliktstoff zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern birgt, wurde meiner SGE-Anhängerschaft seitens meiner Erzeuger früh der gebührende Respekt gezollt. Anders als bei sonstigen Sendungen, wo jede Minute vor der Glotze hart erkämpft werden musste, durfte ich jedes der Spiele der Eintracht auf europäischer Ebene live bis zum Ende sehen, auch wenn es bis kurz vor Mitternacht dauerte. So schizophren es klingt: Schon damals war es mir dabei nahezu unerträglich, ein Spiel der Eintracht in voller Länge live zu sehen. Die übliche Zusammenfassung in der Sportschau am Samstag, wenn man aus dem Radio ohnehin schon wusste, wie es ausgegangen war – okay. Aber eine Live-Übertragung oder gar die Anwesenheit beim Spiel ist von jeher eine heftige Nervenbelastung für mich. Meine Besuche im Waldstadion und das Zittern vor der Mattscheibe werden mich am Ende sicher ein paar Jahre Lebenszeit gekostet haben. Frei nach Woody Allen: „Schreibt auf mein Grab in rot: Eine Heimniederlage war sein Tod!“ Zuhause genoss ich das, was man eine unbeschwerte Kindheit in einer Block-Siedlung mit vielen Gleichaltrigen rundherum nennen darf. Die Tage glichen einander: Nach der Schule den Ranzen in die Ecke gefeuert und runter auf den Bolzplatz. Wir hatten damals einen Vertreter jener seltenen Spezies von Hausmeistern auf unserer Seite, die ein Herz für Kinder besitzt. Wie oft hat „der Püschel“ den Zaun zum Nachbargrundstück erst repariert, dann um zwei Meter in seiner Höhe verlängert, weil uns ständig der Ball drüber flog. Dann schaffte er auch noch richtige Fußballtore mit Netzen an und das Tor wurde nicht mehr durch die Pfosten des Jägerzauns begrenzt wie zuvor. Wir kickten wirklich fast jeden Tag und legten dabei vorher fest, „wer wer war“. Das heißt, wir schlüpften in die Rolle unserer Helden aus der Liga. Nicht, dass das fünf Minuten später noch irgendwen interessiert hätte, aber in dem Augenblick der Namensnennung fühlte man sich groß. „Ich bin heute Jürgen Grabowski“, habe ich fast immer gesagt. Aber wehe, man war nicht der erste, der den Namen seines alter ego nannte, dabei bekräftigend auf den Boden rotzte und die nicht mehr zu toppende Beschwörung „Dreimal goldenes Kreuz“ von sich gab. Dann kam einem ein anderer zuvor und schnappte sich vielleicht den Grabi. Manchmal schaffte das tatsächlich einer. Dann stand ich jedes Mal wieder neu vor der Frage, ob es die Angelegenheit nicht verdiente, solcherlei impertinenten Zeitgenossen eines auf die Nase zu geben. Einige Bemerkungen seien mir an dieser Stelle zu Grabi noch erlaubt. Damals wie heute verkörpert er für mich den nahezu perfekten Fußballer und Sportsmann. Am ehesten charakterisiert ihn der Begriff „Gentleman auf dem Rasen“, wie er außer auf ihn vielleicht nur noch auf Bobby Charlton und sonst keinen anderen Kicker der Geschichte zutrifft. Ein wahrer Ausnahme-Typus von natürlicher Autorität, die keinerlei Machtgebaren oder Ränkespiel zur ihrer Manifestierung bedurfte. „Er war der Kapitän, da gab es gar keine Diskussion“, brachte es ja auch Holz auf den Punkt. Grabi fehlt mir immer dann, wenn ich diese eitlen Fatzkes heutiger Spielergeneration sehe, für die Vereinstreue ein Fremdwort ist, und denen auch sonst die Milliönchen früh den Charakter verderben. Für die es keinen Sportsgeist gibt, wenn sie im Spiel nach zärtlichster Touchierung durch den Gegner mit theatralischer Gebärde zu Boden stürzen, als habe man ihnen soeben bei vollem Bewusstsein beide Beine amputiert. Für die es auf der anderen Seite kein Fairplay mehr gibt, wenn sie bei Gegenspielern einsteigen, dass man dabei nur von vorsätzlicher schwerer Körperverletzung sprechen kann. Und wo wir beim Thema sind: UUUPS wird für mich nie der Kapitän der Weltmeistermannschaft von 1990 sein, er wird immer derjenige bleiben, der Grabi in den verfrühten Ruhestand getreten hat. Selten dürfte ich so fassungslos gewesen sein wie an jenem Tag, als ich im Radio die Meldung hörte, dass UUUPS vom damaligen Eintracht-Vorstand als Trainer ins Gespräch gebracht wurde. Man stelle sich vor, jemand wolle Osama bin Laden als Bürgermeister von New York einsetzen! Ganz sicher – wenn sie das gemacht hätten, die Fans hätten das Stadion niedergebrannt. Ich hatte das Glück, als Erwachsener einmal ein etwas längeres Gespräch mit Jürgen Grabowski führen zu können. Kurz zuvor hatte man ihm die Präsidentschaft bei Eintracht Frankfurt angetragen, als der Verein mal wieder in schwerem Wetter gegen das Kentern ansegelte. Aber Grabi kennt ja seine Eintracht; er wollte sich nicht als vermeintlicher Retter verheizen lassen: „Ich glaube nicht, dass ich dem Verein damit helfen könnte“, meinte er. Auch wenn ich es damals sehr bedauerlich fand – sein untrügliches Gespür hat ihn damit natürlich die absolut richtige Entscheidung treffen lassen. Übrigens war ich bei dem Interview ziemlich aus dem Häuschen – da saß mir schließlich der Held meiner Kindheit gegenüber und unterhielt sich mit mir. Bis heute ist meine Achtung vor dem Mensch und Sportler Jürgen Grabowski ungetrübt, und meine liebste Bekleidung im Stadion ist das weiße Traditions-Trikot aus den Siebzigern mit seiner Rückennummer, der 8. Das Stichwort „Trikot“ gibt mir Anlass, in meine Kindheit zurückzukehren. Noch sollte es einige Jahre dauern, bis ich mein erstes Eintracht-Trikot vom sauer ersparten Taschengeld kaufen sollte. Mein wahrscheinlich erstes Fan-Accessoire bestand daher in einem gestrickten schwarz-weißen Eintracht-Schal, den ich kostenneutral bei Muttern in Auftrag geben konnte. Und wenn ich Schal sage, dann meine ich Schal. Nicht diese lächerlichen Tüchlein, die man heute kaufen kann. Ein echter Fan-Schal aus der guten alten Zeit hatte eine Breite von zirka 35 Zentimetern eine Länge von mindestens zwei Metern, sodass er auch dann noch bis auf den Boden reichte, wenn man ihn im Winter seiner eigentlichen Bestimmung gemäß tatsächlich ein- oder zweimal um den Hals wickeln musste. Der Nachteil der langen Woll-Wurst bestand darin, dass man sie - und damit sich selbst - nur schlecht vor den Wegzieh- und Würge-Attacken von Mitschülern verteidigen konnte, die mit anderen Vereinen sympathisierten. Allerdings: Waren auch sie echte Fans, dann hatten sie gleichfalls einen Endlos-Strick um den Hals, was wiederum eine Art pari-pari-Situation herstellte und die Sache meist damit beendete, dass man zu zweit um Luft röchelnd nebeneinander im Dreck lag. Außer am Schal war man damals im Alltag auch noch an den Adler-Aufnähern als Fan erkennbar, mit denen Mama die bei zahlreichen Fahrradstürzen zerschlissenen Knieregionen der Jeans ausbesserte. Leider waren die Adler-Sticker gerade aufgrund dieser hohen Unfallquote mit dem für Rampensprünge ziemlich ungeeigneten Bonanza-Rad auch bald wieder abgewetzt und damit nur noch schwer als solche erkennbar. Einige Zeit später bekam ich von einem Klassenkameraden dessen Kutte mit dem obligatorischen großen Adler auf dem Rücken geschenkt, aus der er herausgewachsen war. Selbst für einen Zwerg wie mich war sie bereits etwas klein, und so wurde sie von Mama durch schwarz-rote Troddeln ein wenig nach unten verlängert. Derart gerüstet wurde es natürlich langsam Zeit für einen ersten Besuch im Waldstadion. Es muss so Ende der Siebziger gewesen sein, ich war demnach 14 oder 15 Jahre alt und fuhr mit einem Kumpel in der Bahn nach Sportfeld. Ich habe keine Ahnung mehr, gegen wen die Eintracht spielte. Ich habe keine Ahnung mehr, wie das Spiel ausging. Meine einzige Erinnerung an diesen Tag betrifft das überwältigende Gefühl, als ich nach dem Erklimmen der Westkurve bei strahlendem Sonnenschein zum ersten Mal über den Rand dieser riesigen Suppenschüssel auf das Spielfeld blickte: Wahnsinn! Mir stockte der Atem ob dieses Anblicks, der so gar nichts mit dem zu tun hatte, was ich als Stadion aus dem Fernseher kannte. Mir war in dem Augenblick sofort klar, dass ich nicht das letzte Mal hier gestanden haben würde. Da ich hier die Schulzeit so ausgiebig zitiert habe, sei mir ein kurzer Exkurs erlaubt. Mir ist während des Schreibens aufgefallen, dass ich auch heute noch, nach über 25 Jahren, von fast jedem meiner männlichen Mitschüler der Klassen 1 bis 10 weiß, für welchen Fußballverein er schwärmte. Ich kann mich an sonst kaum Vorlieben oder Interessen der Kerle erinnern, nur was für ein Fan sie waren. Was heißt das? Gibt es eine pädagogische, soziologische, anthropologische, psychologische oder sonst eine Untersuchung dazu, welche Bedeutung die Identifizierung mit einem Fußballverein für die Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung eines männlichen Hominiden besitzt? Ein Thema für eine Doktorarbeit, wenn ihr mich fragt. Oder gibt es die schon? Die erste wirklich hautnahe Begegnung mit meiner Eintracht fand 1980 statt. Drei Tage vor dem UEFA-Cup-Finalhinspiel in Gladbach gastierte sie zu einem Spiel bei SKV Mörfelden, die damals irgendein Vereinsjubiläum beging. Wir sind mit einigen Jungs unseres „Fanclubs“ in vollem Ornat mit Schals, Fahnen, Käppis und Tröten dort aufgelaufen und haben die Eintracht aus Leibeskräften angefeuert. Schon damals hätte es uns eigentlich ziemlich lächerlich vorkommen müssen, uns derart für die um was-weiß-ich wie viele Klassen bessere Mannschaft ins Zeug zu legen. Aber scheiß drauf, das war unsere Eintracht und es galt schließlich zu zeigen, auf wessen Seite man stand. Nach der Halbzeit haben wir unseren Platz auf der durch eine Laufbahn vom Spielfeld getrennten Tribüne aufgegeben und uns direkt an die Seitenlinie gehockt. Jetzt waren wir nur noch wenige Meter von unseren Stars entfernt. Da spielten unter anderem Bernd Hölzenbein, Bruno Pezzey, Bernd Nickel, Charly Körbel, Ronald Borchers, Bum Kun Cha und Willi Neuberger. Ich konnte es kaum fassen, diesen Halbgöttern so nahe zu sein. Kaum war der Schlusspfiff ertönt, da bestürmten wir die Mannschaft und sammelten Autogramme, was das Zeug hielt. Ich besitze sie heute noch. Ganz schön stolz waren wir, als dann auch noch ein Foto in der Zeitung erschien, das uns beim Krakeelen zeigte. Das Spiel endete übrigens 11:0. Für die Eintracht. Grabi65 ist Frank Jung aus Wiesbaden und – erinnerungsgemäß
- schon immer Eintrachtfan
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