Eintracht Braunschweig - Eintracht
Frankfurt |
Bundesliga 1977/1978 - 17. Spieltag
1:1 (1:1)
Termin: Sa 03.12.1977, 15:30 Uhr
Zuschauer: 15.000
Schiedsrichter: Walter Eschweiler (Euskirchen)
Tore: 1:0 Peter Lübeke (28.), 1:1 Jürgen Grabowski (37.)
Eintracht Braunschweig | Eintracht Frankfurt |
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Trainer | Trainer
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Die Verantwortung eines Kapitäns Peter Reichel, der an einem Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel laboriert, dreht am 27.11. nach der ärztlichen Behandlung 15 Runden und will bis zum übernächsten Spiel wieder fit sein. Der Kapitän der B-Nationalelf macht sich aber keine Illusionen über die nächste Saison: „Fußball ist ein hartes Geschäft. Die Eintracht wird 600.000 bis 800.000 Mark Ablöse für mich verlangen, und wenn sie die bekommt, kann ich gehen. Ich werde nicht um eine Verlängerung betteln. Ich weiß, was ich kann.“ Der Kampf auf dem bisher von Reichel besetzten rechten Verteidigerposten mit der Nummer 2 wird im nächsten Jahr wohl noch größer, denn die Eintracht will angeblich Jürgen Groh vom 1. FC Kaiserslautern verpflichten und Helmut Müller, der Reichel glänzend vertrat, wehrt sich gegen seinen geplanten Verkauf: „Ich kämpfe um meinen Platz.“ „Wir wollten Müller und Krobbach verkaufen“, scheint nun auch Hauptgeschäftsführer Dr. Wolf unentschieden zu sein: „Jetzt spielen die auf einmal so gut, dass wir sie nicht mehr verkaufen dürften.“ Doch diese Personalfragen werden nur zwei Tage später überraschend von einer anderen nicht nur abgelöst, sondern wie das anstehende Spiel zum Hinrundenabschluss bei Eintracht Braunschweig komplett in den Hintergrund gedrängt, weil Gewitterwolken von der Isar an den Main ziehen … Zwei Mal – einmal im UEFA-Pokal und einmal in der Bundesliga - hat die Frankfurter Eintracht die nun auf Platz 16 abgerutschte Elf von Bayern München mit jeweils 4:0 Toren geschlagen und das innerhalb von vier Tagen. Die Mannschaft, die im Sommer des letzten Jahres zum dritten Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister erringen konnte, ist nur noch ein undeutliches Echo auf die vergangenen glorreichen Tage. Verantwortlich gemacht für den Niedergang wird natürlich der Trainer, Dettmar Cramer. Cramer muss schwere Vorwürfe einstecken, die ihm vom Vereinpräsidenten Wilhelm Neudecker gemacht werden: „Die Mannschaft spielte schlampig. Konditionsschwächen sind nicht zu übersehen. An den vielen verlorenen Zweikämpfen sieht man, dass den Spielern auch die Spritzigkeit fehlt.“ „Ich habe schon Lösungen gefunden“, meint Neudecker vielsagend und die Bombe platzt am Mittwochnachmittag: Gyula Lorant, bisher Trainer von Eintracht Frankfurt, wird angeblich neuer Trainer des FC Bayern München, und Dettmar Cramer soll im „Tausch“ neuer Trainer der Eintracht werden. „Während der Krisensitzung am Montag habe ich diesen Vorschlag Herrn Neudecker gemacht“, erklärt Cramer, andere Quellen behaupten, Neudecker habe einen Tipp aus Frankfurt bekommen, dass man sich gerne von dem in der letzten Saison so erfolgreichen, aber unbequemen Trainer trennen möchte. Erste Gespräche mit von Thümen soll Neudecker demnach am 23.11. nach dem UEFA-Pokalhinspiel beider Teams geführt haben. Mannschaftskapitän Jürgen Grabowski und Nationalspieler Bernd Hölzenbein werden von der Nachricht völlig überrascht; sie erfahren sie durch einen Anruf der Sportredaktion der Abendpost/Nachtausgabe. „Das darf doch nicht wahr sein“, ist Hölzenbeins erste Reaktion. „Wenn das stimmt, dann wird man von mir einige harte Worte hören“, kündigt Grabowski an: „Wir Spieler hatten von dem Trainer-Tausch nicht die geringste Ahnung! Uns hat keiner gefragt ...“ „Ich habe vor einigen Tagen im Scherz noch gesagt: Der einzige, der die Bayern jetzt noch retten kann, ist Lorant. Aber ich habe es nicht für möglich gehalten, dass es so schnell gehen würde“, sagt Hölzenbein, dem die Zukunft Sorgen bereitet - er sieht eine „schwere Belastung“ auf die Elf zukommen. „Ausgerechnet, wo es wieder aufwärts geht, wieder umstellen, das Training wird geändert, vielleicht sogar das System. Ob das mal gut geht …“, fragt sich nicht nur der „Holz“, der es „einfach nicht glauben“ will. „Ich fühle mich verarscht“, bringt es Rüdiger Wenzel für nicht wenige auf den Punkt und fragt: „Cramer kommt - ist das gut oder nicht?“ In München, wo am Mittwoch der Trainertausch ebenfalls
festzustehen scheint, hat der von Cramer geförderte Karl-Heinz Rummenigge
für sich eine Antwort gefunden: „Dass Cramer geht, ist für
mich eine bittere Situation. Schließlich hat er mich vom Amateur
zum Nationalspieler gemacht.“ Auf die Frage, ob er dem Trainer zur
Eintracht folgen werde, antwortet der Stürmer: „Mit Sicherheit
noch nicht jetzt. Außerdem weiß ich gar nicht, ob mich die
Frankfurter brauchen können.“ Wenig begeistert ist auch Mittelfeldspieler
Branko Oblak: „Was? Lorant? Nein! … Ich glaube, das ist schlecht
für mich. Lorant hat in Frankfurt meinen Landsmann Stepanovic auf
die Ersatzbank verdammt. Vielleicht hat er was gegen uns Jugoslawen.“
„Ob die Entscheidung richtig oder falsch war, werden wir in drei
bis vier Wochen wissen“, meint „Bulle“ Roth und ist
skeptisch: „Ein Mann, der brüllt und Radau macht, ist nicht
unbedingt der Richtige.“ Jupp Kapellmann dagegen freut sich: „Ich
bin angenehm überrascht. Lorant ist eine echte Alternative zu Dettmar
Cramer.“ Auch in Frankfurt gibt es einen Spieler, der nun wieder
auf bessere Zeiten für sich hofft: „Ich mache eine Flasche
Sekt auf“, kündigt Ersatztorwart Wienhold an. Wie es aussieht, hat Neudecker am Dienstagabend gegen 21 Uhr seine Amtskollegen bei der Frankfurter Eintracht angerufen: Achaz von Thümen, der zu Lorant ein angespanntes Verhältnis pflegt, stimmt angeblich dem Trainertausch zu. Die Position des Eintracht-Präsidenten ist allerdings nicht vergleichbar mit der des mächtigen Bayern-Bosses, der den Verein nach Gutsherrenart zu lenken beliebt. Der Frankfurter versäumt es auch, mit seinen Präsidiumskollegen Rücksprache zu halten, ob Cramer in Frankfurt vermittelbar ist. Ein Fehler, wie er feststellen wird. Am nächsten Morgen gibt es um 9 Uhr eine Lagebesprechung zwischen Neudecker und Cramer, bei der Neudecker einen ersten telefonischen Kontakt mit Lorant aufnimmt und den Eintrachttrainer bittet, noch am selben Tag zu Gesprächen nach München zu reisen. Während Cramer am Nachmittag um kurz nach 15 Uhr mit dem Mannschaftstraining beginnt, verhandeln Lorant und sein Co-Trainer Csernai bereits mit Neudecker. Gegen 16 Uhr verlassen die beiden das Büro des Präsidenten, der wenig später bekannt gibt: „Herr Lorant und Frankfurts Assistenz-Trainer Pal Csernai waren heute in meinem Büro. Die Verhandlungen waren nicht schwierig. Wir haben uns per Handschlag auf einen Eineinhalb-Jahresvertrag geeinigt. Der Vertrag von Herrn Cramer ruht bis zu diesem Zeitpunkt. Wenn er dann in Frankfurt nicht mehr klarkommt, kann er ja zu uns zurückkehren.“ „Mit den Spielern ist alles in Ordnung“, erklärt Neudecker zudem nach einem Telefonat mit Gerd Müller: „Jetzt geht es um den Verein und nicht um Privatinteressen der Spieler.“ Neudecker kündigt an, dass Lorant am Donnerstag um 15 Uhr sein neues Amt als Bayern-Trainer antreten und Cramer noch heute zu Verhandlungen nach Frankfurt fliegen werde. Diese finden ab 20 Uhr mit von Thümen und Vizepräsident Kunter im Sheraton-Hotel statt. Schatzmeister Gerhard Jakobi, der am späten Abend im Sheraton Hotel eintrifft, trägt in einer ersten Stellungnahme noch zur Verwirrung bei: „Ich bin ebenso wie unser Kapitän Grabowski über diesen Trainertausch empört.“ Drei Stunden später erklärt von Thümen den wartenden Pressevertretern überraschend: „Herr Neudecker hat uns überrumpelt. Aber eines ist klar: Wenn wir mit Herrn Cramer nicht einig werden, bleibt Herr Lorant Trainer der Frankfurter Eintracht. Jedenfalls hat Herr Lorant am Donnerstagmorgen um 9 Uhr zum Training anzutreten. Schließlich hat er einen Vertrag mit uns. Und so lange kein adäquater Nachfolger gefunden ist, sehen wir keinen Grund, diesen Vertrag zu lösen. Schließlich hat Herr Lorant bei uns gute Arbeit geleistet.“ Um Mitternacht fliegt Cramer zurück nach München. Am nächsten Morgen leitet er dort ab 9 Uhr das Mannschaftstraining und erklärt: „Ich bin noch immer Bayern-Trainer. Die Eintracht hat sich noch nicht entschieden, ob sie Lorant freigeben wird und mich verpflichten will.“ In München sind die Spieler zum Training gekommen, um sich von ihrem Trainer Dettmar Cramer zu verabschieden. „Ich glaube, Rudi Gutendorf wird unser neuer Trainer“, scherzt Gerd Müller, während Sepp Maier nicht zum Lachen zumute ist: „Ich bin hier im Komödienstadl, zweiter Akt. Jetzt warte ich auf den dritten.“ Während alle von Cramer Abschiedsworte erwarten, spricht der über die Taktik im Spiel gegen Kaiserslautern und bittet die Spieler zum Training in die Halle. „Ich hoffe, dass Cramer noch bis Samstag bei uns ist. Dann gewinnen wir das Spiel und Cramer bleibt“, sagt Uli Hoeneß. Während einige Frankfurter Spieler unter der Aufsicht von Csernai lustlos über den Trainingsplatz traben, verhandeln auf der Geschäftsstelle von Thümen, Manager Dr. Wolf, Dr. Kunter, Kapitän Grabowski und Trainer Lorant. Der bittet aus seinem bis 1979 laufenden Vertrag entlassen zu werden: „Ich habe vor kurzem vom Frankfurter Präsidium einen Brief erhalten, in dem mir vorgeworfen wird, ich hätte das Präsidium in letzter Zeit in der Öffentlichkeit zu oft kritisiert, deshalb wurde ich mit den Bayern auf der Stelle einig.“ Grabowski spricht sich deutlich für Trainer Lorant aus und fordert das Präsidium auf, dessen Kündigung nicht anzunehmen
„Die Leute riefen an und beschimpften uns. Einer drohte, unsere Tribüne in Brand zu stecken“, berichtet Eintracht-Geschäftsführer Jürgen Gerhardt. Schon vor dem morgendlichen Training gab es Sprechchöre vor der Geschäftsstelle: „Neuer Vorstand! Lasst den Napoleon zu Hause!“ Die am Vortag anberaumte Pressekonferenz der Eintracht wird um 11 Uhr auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. „Erklärungen erfolgen im Laufe des Tages“, kündigt von Thümen an. Eine halbe Stunde später fahren Grabowski und Lorant zu Schatzmeister Jakobi, dem Direktor bei der Bank für Gemeinwirtschaft in Frankfurt. „Kein Kommentar“, lacht ein entspannter Lorant mit dicker Zigarre zwischen den Zähnen. Zwei Stunden dauert das Gespräch bei Jakobi, dann sagt Grabowski: „Jetzt hängt es am Präsidium. Ich habe getan, was ich konnte.“ „Egal was passiert, ich gehe nach München“, betont Lorant. Inzwischen spricht Bernd Hölzenbein am Rande des Trainingsplatzes von einem „Irrenhaus“ und Willi Neuberger von einem „Affentheater“. Das Nachmittagstraining um 15 Uhr leitet erneut Csernai, das Eintracht-Präsidium berät … Als gegen 17 Uhr Präsident von Thümen und Manager Wolf die Geschäftstelle am verlassen, um zur Präsidiumssitzung zum BfG-Hochhaus zu fahren, nehmen mehrere hundert Kiebitze am Riederwald eindeutig Stellung: „Thümen raus!“ Am Abend um kurz vor acht tritt der sichtlich erschöpfte Achaz von Thümen mit schweißnasser Stirn vor die Presse und erklärt: „Wir nehmen die fristlose Kündigung unseres Trainers Gyula Lorant nicht an. Wir sind mit Herrn Cramer der Meinung, dass der Tausch frühestens zum 1. Januar in Frage kommt. Am liebsten wäre uns der Tausch zum Saisonende, aber da macht ja Herr Neudecker nicht mit.“ Das Gerücht, dass Neudecker der Eintracht telefonisch den sofortigen Tausch mit einem Batzen Geld versüßen will, will von Thümen weder dementieren noch bestätigen: „Dazu sage ich nichts. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kommt der Tausch nicht in Frage. Wir können Herrn Cramer nicht zumuten, mit drei Auswärtsspielen zu beginnen.“ Keine Viertelstunde später meldet sich Lorant bei Neudecker: „Ich fahre morgen früh um acht los und bin morgen Mittag in München. Dann kann ich mit der Mannschaft ins Trainingslager gehen.“ Lorant habe drei Gründe für seine Kündigung genannt, hat von Thümen der Presse erklärt: Erstens ein Brief des Präsidiums, in dem er aufgefordert wird, in Zukunft öffentliche Kritik an Repräsentanten des Vereins zu unterlassen. „Der Brief war sehr höflich abgefasst“, versichert der Präsident. Zweitens das gespannte Verhältnis zu Amateurtrainer Bewersdorf, den Lorant einen „Heckenschützen“ nennt. „Wir haben Herrn Bewersdorf darauf hingewiesen, dass seine unqualifizierte Kritik an Herrn Lorant zu unterbleiben hat. Herr Bewersdorf hat das eingesehen und war bereit, sich bei Herrn Lorant zu entschuldigen. Dies hat Herr Lorant abgelehnt“, berichtet von Thümen. Drittens das Gefühl, mit dem Präsidenten nicht auf einer „Wellenlänge zu senden“. „Dieses Gefühl trügt. Ich habe Herrn Lorant nie kritisiert und hatte auch keinen Grund dazu“, erklärt von Thümen wenig glaubhaft und behauptet, dass Lorant den Tausch initiiert habe. Das allerdings steht im Widerspruch zu von Thümens eigener Aussagen, dass er Wilhelm Neudecker auf dessen Anfrage hin erklärt habe: „Man kann über alles reden.“ Für Kapitän Jürgen Grabowski ist dies der entscheidende Satz: „Wenn die Eintracht mir sagen würde, man könne darüber reden, wenn ich wegwollte, muss ich doch denken, sie will mich nicht mehr. Genauso ging es Herrn Lorant.“
Eine Vorstellung, wie sich die Frankfurter Elf in diesem Tohuwabohu auf das morgige Bundesligaspiel vorbereiten soll, hat der Präsident nicht: „Ich kann es nicht sagen.“ Einen Interimstrainer hat die Eintracht nicht zur Hand, nachdem die Lizenzspieler übereinstimmend beschlossen haben, dass sie in Anbetracht der Äußerungen von Bewersdorf in den letzten Wochen „unter keinen Umständen mit ihm arbeiten werden“. Einer möglichen Weisung des Präsidiums beugen die Spieler mit einer Drohung vor: „Dann streiken wir.“ Sollten weder Lorant noch Cramer am Samstag auf der Bank sitzen, übernimmt Kapitän Grabowski die Trainerrolle, sind sich die Profis auch in diesem Punkt einig, Lorant und sein Assistent Csernai haben am Vortag am Riederwald die Schlüssel für ihre Umkleidekabinen abgeben, obwohl die Eintracht mit juristischen Schritten droht und überlegt, den Trainer mit einer einstweiliger Verfügung zu zwingen, am Samstag auf der Trainerbank Platz zu nehmen. Das Freitagstraining wird von etwa 400 Kiebitzen begleitet, die Beifall klatschen, als die Spieler auf den Trainingsplatz laufen. Vorne weg läuft Jürgen Grabowski, der die Übungseinheit leiten wird: „Ich mache hier nicht den Vorturner“, bestimmt der Kapitän, der den Rekonvaleszenten Peter Reichel mit der Gymnastik beauftragt. Eine gute Wahl, schließlich ist Reichel Mathematik- und Sportlehrer. Nach dem Warmlaufen sowie einigen Lockerungs- und Aufwärmübungen ertönt nach 20 Minuten Grabowskis Stimme: „Wir machen jetzt noch ein Spielchen.“ Nach weiteren 40 Minuten ist auch dieses beendet. „Das Programm wie jeden Freitag“, bemerkt Grabowski. Um 16.55 Uhr fliegt die Mannschaft nach Hannover. Von dort wird die Reise nach Braunschweig fortgesetzt, wo auf den Zimmern des Hotels bis spät in die Nacht ebenso diskutiert wird, wie am Morgen zwischen Frühstück und Mittagessen. Taktische Überlegungen werden dabei nur in der Spielersitzung besprochen, bei der einstimmig beschlossen wird, die unter Lorant mit Erfolg praktizierte Raumdeckung beizubehalten. „Warum sollten wir etwas ändern, was in den letzten Wochen so gut geklappt hat?“, fragt Grabowski die Pressevertreter. Auf der Bank werden neben Mannschaftsarzt Dr. Degenhardt Vizepräsident Dr. Kunter und Manager Dr. Wolf sitzen. „Wir brauchen doch jemand, der die Schilder bei der Auswechslung hochhebt“, versucht Manager Wolf einen Flachs „Wir werden sehen, ob jemand ausgewechselt werden muss“, bestimmt Grabowski dazu. „Heute können wir beweisen, dass es auch ohne Trainer geht und wie clever wir wirklich sind“, fordert der Kapitän von sich und seinen Mitspielern in Anspielung auf das Urteil von Gyula Lorant, der der Mannschaft eine besondere Intelligenz bescheinigte. Dabei steht die Eintracht aus Frankfurt bei dem Namensvetter in Braunschweig ohnehin vor einer schweren Aufgabe, bei den Niedersachsen konnte man in der Bundesliga nur einmal gewinnen – am 15.2.1964 - und der letzte Punktgewinn dort datiert vom Mai 1968. Außerdem wollen sich zum Abschluss der Hinrunde auch die Gastgeber beweisen, bei denen der zu Saisonbeginn dank des Mäzens Mast überraschend von Real Madrid gekommene ehemalige Bayernspieler Paul Breitner wegen einer Fersenbeinprellung ausfällt. Die Abwehr der Eintracht muss auf die verletzten Reichel, Trinklein und Skala verzichten, so dass neben Vorstopper Körbel Neuberger die Liberorolle übernimmt und Krobbach und Müller die Außenverteidigerpositionen. Es ist nasskalt in Braunschweig, doch die Frankfurter beginnen mit heißen Herzen und nicht weniger aggressiv als gegen Bayern München. Kein Meter wird freiwillig dem Gegner überlassen und die technisch so beschlagene Elf schreckt auch vor harten Attacken nicht zurück, die die Gastgeber sofort erwidern. Schiedsrichter Walter Eschweiler hat keine geringe Mühe, die Auseinandersetzung in geordnete Bahnen zu lenken und die schon in der Anfangsphase erhitzten Gemüter zu beruhigen. Die Begegnung ist zwar nicht hochklassig, hat aber doch mehr zu bieten als ausschließlich bloßen Kampf. Schon nach fünf Minuten bekommen die 14.000 Zuschauer die erste Tormöglichkeit zu sehen: Hölzenbein zirkelt eine Flanke auf den Kopf von Wenzel und nur die prächtige Reaktion von Torhüter Franke verhindert den frühen Rückstand der Gastgeber. Drei Minuten später folgt bereits die Antwort der Braunschweiger. Nickel missglückt eine Kopfball-Abwehr, was Merkhoffer zu einer Volleyabnahme nutzt. Dieses Mal ist es Keeper Koitka, der sein Können zeigt und dem möglichen 1:0 für die Elf von Trainer Zebec einen Riegel vorschiebt. Die Frankfurter Abwehr steht trotz dieser Szene insgesamt sehr sicher. Neuberger bietet eine ganz ausgezeichnete und besonders umsichtige Partie auf seiner Lieblingsposition. Souverän, ballsicher und schnell – es geht nicht besser. Körbel ist in einer Form, die ihn endlich wieder zu einem Kandidaten für die DFB-Auswahl werden lassen sollte – immer ist er einen Schritt vor seinem Gegenspieler. Helmut Müller ist auf der linken Seite eine Bank, lediglich auf der rechten Seite sorgt Danilo Popivoda für einige Unruhe. Peter Krobbach versucht, ihn mit knorriger Härte zu stoppen, und das gelingt ihm im Laufe der ersten Halbzeit immer besser. Völlig überraschend kommt daher die Führung der Gastgeber nach einer guten halben Stunde. Popivoda und Handschuh leisten die Vorarbeit, die mit dem Mittelstürmer Lübeke ein Neuzugang abschließt: Aus abseitsverdächtiger Position schießt Lübeke das 1:0 und gleichzeitig sein erstes Bundesliga-Tor für Eintracht Braunschweig.
Die Frankfurter nehmen den Gegentreffer scheinbar ungerührt zur Kenntnis und stellen ihren Plan, mit schnellen Angriffen aus dem Mittelfeld zum Erfolg zu kommen nicht infrage. In der Zentrale steht Grabowski assistiert von den langen Pässen Nickels am Schaltpult, das er immer wieder verlässt, um Braunschweiger Gegenspieler als Slalomstangen zu verwenden und gute Möglichkeiten für die eigene Elf herauszuspielen. Den verdienten Ausgleich in der 37. Minute bereitet allerdings sein kongenialer Partner Nickel vor. Dessen weite Flanke in den Strafraum prallt von Braunschweigs offensivstarkem Außenverteidiger Merkhoffer zu Wenzel, der zunächst aus kurzer Distanz am erneut gut parierenden Franke scheitert. Doch auf den Abpraller des am Boden liegenden Franke hat Grabowski gelauert. Der Kapitän, der den Eindruck erweckt, er könne zaubergleich an mehreren Orten gleichzeitig sein, ist zur rechten Zeit am rechten Fleck und schießt den Ball mühelos zum Ausgleich ins Netz. Der Mann mit der Nummer 10, sonst kein Freund des auffälligen Torjubels, springt in die Luft und reckt die geballte rechte Faust, bevor seine Mannschaft kommt, um mit ihrem „Spielertrainer“ zu feiern. Der starke Mann bei der Eintracht ist gleichzeitig auch der beste, den sie hat. Der Treffer bringt weiteres Feuer in die bereits knüppelharte Begegnung. Lübeke langt in derselben Minute zu und erhält ebenso die Gelbe Karte wie Kraus in der 43. Minute. Die erneute Führung verpassen beide Teams noch vor der Pause: Handschuh zielt frei stehend weit über Koitkas Kasten und vor dem anderen Tor verfehlt der bewegliche Wenzel aus spitzem Winkel. Auch nach dem Wechsel halten Tempo und Verbissenheit an. Die Eintracht überzeugt in allen Mannschaftsteilen restlos. Nach Grabowski sind Weidle, Neuberger und Körbel besonders lobend zu erwähnen und natürlich die beiden Außenverteidiger Müller und Krobbach, denen doch nach monatelanger Pause und nur wenigen Einsätzen die Spielpraxis fehlen müsste. Krobbach spielt das, was der Eintracht häufig gefehlt hat, in dem er - ohne sich oder den Gegner zu schonen - dazwischenfegt. Zwischen der 65. und 75. Minute sieht es sogar so aus, als könnten die Frankfurter zum ersten Mal seit 13 Jahren in Braunschweig gewinnen. Doch trotz Feldüberlegenheit gelingt kein Treffer. Die Braunschweiger scheinen mit dem Unentschieden nicht unzufrieden zu sein. Handschuh, in der ersten Halbzeit noch ein ähnlich überzeugender Regisseur wie Grabowski, fehlt die Unterstützung, die der Frankfurter beispielsweise durch Nickel und den technisch überraschend starken Weidle genießt. Es gelingt nicht, die Hessen unter Druck zu setzen, und der ansonsten zuverlässige Koitka braucht in diesem Spiel nur einmal Glück, als ihm ein Flachschuss durch- und auch am Tor vorbeirutscht. Die beste Gelegenheit, doch noch einen Treffer zu erzielen, hat Grobe in der Schlussphase. Grabowski, bereits vor einer Woche im Spiel gegen die Bayern mit dem Prädikat „Weltklasse“ versehen, wurde in der ersten Halbzeit noch ausgepfiffen. Doch längst hat er sich den Respekt des Braunschweiger Publikums verdient, das ihm fünf Minuten vor dem Ende sogar Beifall spendet, als er nacheinander vier Abwehrspieler auf engstem Raum austrickst. Die Partie hat zwei Sieger verdient und bekommt keinen. Das Spiel endet 1:1 und die wenigen hundert mitgereisten Frankfurter Fans feiern den Kapitän ihrer Eintracht mit Sprechchören: „Wir brauchen keinen Lorant, wir brauchen keinen Cramer, wir haben einen Grabi, den besten Spieler der Welt!“ Nach Spielschluss liegen sich aber auch die Doktoren auf der Trainerbank – Degenhardt, Kunter und Wolf - jubelnd in den Armen. „So wurde ein Unentschieden noch nie gefeiert. Einige sind überzeugt, wir hätten gewonnen“, freut sich Jürgen Grabowski: „Man meint, wir seien gerade Deutscher Meister geworden.“ „Ich bin jetzt noch so heiser, dass ich keinen Ton mehr raus bringe“, krächzt Wienhold, der zusammen mit Stepanovic von der Ersatzbank aus die Kameraden auf dem Platz ununterbrochen angefeuert hat. „Habe gebrüllt wie Löwe“, berichtet Stepanovic, der bei einer Verletzung von Krobbach blitzschnell seinen Parka ausgezogen hatte und sofort aufs Feld wollte: „In dieser Truppe wollte ich unbedingt dabei sein.“ „Soviel hat noch nie ein Ersatzspieler gebrüllt“, bescheinigt Dr. Kunter dem Jugoslawen, der vor Grabowski „den Hut zieht“. Mit breiter Brust schreiten die Spieler vom Platz. „Na, wart ihr mit meinem Trainereinstand zufrieden?“, fragt Grabowski in der Kabine lachend und selbst der von ihm kritisierte Eintracht-Präsident von Thümen kommt nicht umhin, den Kapitän zu loben: „Eine tolle Leistung von Jürgen Grabowski! Grabowski ist ein absolutes Vorbild. Was er in den letzten Tagen geleistet hat, ist einmalig.“ „Wir haben Grabi in die Hand versprochen, dass wir uns alle reinknien“, verrät Wenzel und Stepanovic wirkt fast gerührt: „Ist wie in Familie.“ Grabowski selbst bleibt so nüchtern und gelassen, wie man ihn kennt: „In einer solchen Situation müssen alle an einem Strang ziehen, und der Kapitän ist schließlich dafür verantwortlich, dass das Schiff flott bleibt.“ „Ihr habt toll gespielt, dafür gibt’s 1.000 Mark extra“, verspricht der sichtlich erleichterte von Thümen kurz nach dem Abpfiff in der Kabine. Auf der anschließenden Zugfahrt nach Frankfurt gibt er zu: „Die letzten Tage waren für mich sehr unerfreulich, aber die Mannschaft hat heute alles wieder gutgemacht, jetzt kann ich endlich mal wieder beruhigt schlafen gehen.“ „Das war eine glückliche Stunde“, atmet er auf, kann sich aber seinen Seitenhieb auf den alten Trainer nicht verkneifen: „Gegenüber dem 0:3 bei Werder Bremen mit Lorant war das eine Wende!“ „Ich hab’ mir schon so was Dummes gedacht“, antwortet Braunschweigs Libero Haebermann auf die Frage, ob er Frankfurt so stark erwartet habe. „Hut ab vor dieser Frankfurter Mannschaft“, zollt auch Braunschweigs Coach Branko Zebec Respekt und der verletzte Breitner ist überrascht, dass die Frankfurter Eintracht so aggressiv wie in einem Heimspiel agiert hat: „Das hat hier noch keine Mannschaft durchgehalten.“ „Es ist ein Genuss, ihm zuzuschauen, und es wäre schön, noch einmal mit ihm in einer Mannschaft zu spielen“, schwärmt Paul Breitner besonders von Grabowski, der seinerseits „vom besten Auswärtsspiel der ganzen Saison“ spricht. Auch der 2:0-Sieg beim BVB käme da nicht mit, „denn Braunschweig war unheimlich stark.“ „Alle sprechen nur vom letzten Aufgebot der Braunschweiger, aber bei uns haben auch drei wichtige Leute gefehlt“, betont Vizepräsident Dr. Kunter mit Hinweis auf die verletzten Reichel, Trinklein und Skala: „Nur hat sich gezeigt, dass wir die bessere Reservebank haben.“ Helmut Müller bekommt von seinem „Trainer“ Grabowski ein besonderes Lob: „Er spielt so abgebrüht, dass selbst mir manchmal das Herz stehenbleibt.“ „Wir können gar keinen verkaufen“, stellt Manager Dr. Wolf mit Blick auf Müller und Krobbach fest, die die Eintracht vor wenigen Wochen noch unbedingt abgeben wollte. Doch das Unentschieden in Braunschweig – so erfreulich es unter den bekannten Umständen auch ist - kann nur eine Etappe bleiben, die Probleme der Eintracht sind weiterhin ungelöst. „Ich hoffe, Dettmar Cramer kommt am Montag zu Gesprächen nach Frankfurt. Wenn nicht ...“, lässt Dr. Peter Kunter unausgesprochen, was ein Spieler deutlich formuliert, der für seine Kollegen kund tut, was man von Thümens Begründung hält, man könne Cramer nicht drei Auswärtsspiele hintereinander zumuten: „Wir brauchen keinen Trainer, der die Hosen voll hat.“
Es geht aber auch um den künftigen Stil der Eintracht. Grabowski will, dass auch unter einem möglichen Trainer Cramer an der Raumdeckung festgehalten wird, was Manager Dr. Wolf unterstützt: „Es wäre verkehrt, ein erfolgreiches System zu ändern.“ „Ich schätze Herrn Cramer als Mensch und als Trainer, den ich als Nationalspieler kennenlernte. Die Mannschaft würde ihn sicherlich auch als logische Fortsetzung der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit akzeptieren“, sagt Grabowski, der hinzufügt: „Wir haben bewiesen, dass es vorübergehend auch ohne Trainer geht. Das Training können Peter Reichel, der ja Sportlehrer ist, und ich in Absprache miteinander leiten, und auch in der Einstellung sehe ich keine Schwierigkeiten. Wir spielen einfach so weiter wie bisher.“ „Wir können nicht bis zum 1. Januar ohne Trainer bleiben“, meint dagegen Dr. Kunter, der nicht bereit ist, sich in den nächsten Spielen wieder auf die Trainerbank zu setzen: „Und in München am Mittwoch schon gar nicht.“ Die Verantwortlichen bestreiten nicht, mittlerweile mit dem ehemaligen Trainer Dietrich Weise gesprochen zu haben. „Doch Weise kommt erst für die neue Saison in Frage“, stellt Dr. Kunter klar, der keine Übergangslösung in petto hat: Neben Amateurtrainer Bewersdorf wurde von der Mannschaft auch der ehemalige Assistenztrainer Tippenhauer abgelehnt, der bei Fortuna Düsseldorf unter Vertrag steht. Präsident von Thümen bemüht sich unterdessen vergeblich, Cramer zu erreichen, und Manager Dr. Wolf kündigt eine Beratung mit den Anwälten an. „Wir können gar nichts unternehmen, weil uns noch nicht einmal eine schriftliche Kündigung von Herrn Lorant vorliegt …“, erklärt von Thümen mit einiger Hilflosigkeit. Das Durcheinander hält also weiter an. Doch während sich die Verantwortlichen in München und Frankfurt gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben versuchen, bezieht Kapitän Grabowski Stellung: „Bei diesem Schauspiel gibt es drei Hauptdarsteller: Gyula Lorant, Achaz von Thümen und Peter Kunter. Ich bin der Meinung, dass keiner eine weiße Weste hat.“ „Es wird doch immer klarer, dass Lorant weg wollte und die Eintracht ihn loshaben wollte“, erklärt Mittelfeldspieler Wolfgang Kraus und fragt: „Warum geben die Beteiligten das nicht einfach zu?“ Der „Scheppe“ richtet seinen Blick in die nächste Zukunft: „Wenn wir in Braunschweig hoch verloren hätten, wäre unser Selbstbewusstsein angeknackst worden.“ Motivieren muss die Mannschaft vor dem UEFA-Pokal-Rückspiel am Mittwoch in München allerdings ohnehin keiner, wie Roland Weidle versichert: „Wir freuen uns auf dieses Spiel riesig.“ „Wer meint, uns würde das Herz in die Hose rutschen, nur weil Lorant auf der anderen Seite steht, täuscht sich gewaltig“, sagt Rüdiger Wenzel: „Die Bayern können ruhig kommen.“ (rs)
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