10.05.2006

Wie der Polizeichor ins Stadion kam

Eintracht Frankfurt ist deutlich mehr, als Du-Ri Cha, Ioannis Amanatidis oder Heribert Bruchhagen. Eintracht Frankfurt lebt, das hat nicht nur Berlin vor zwei Wochen bewiesen, gerade oder insbesondere durch die Fanszene. Vieles rund um die Eintracht, was heute als selbstverständlich erscheint, hat oft seine ursprüngliche Wurzel innerhalb der Eintrachtfans. Doch über die Jahre hinweg wachsen viele Generationen nach, die sich dessen überhaupt nicht bewusst sind bzw. sein können, wie ein Ritual, eine Fan-Bewegung oder der ein oder andere Schlachtruf entstanden sind. Mittlerweile gibt es ja auch schon einige junge Fans, die nicht mal mehr das alte Waldstadion kennen gelernt haben.

Die älteren Fans unter uns, für die die Eintracht seit jeher erstklassig und auf ewig unabsteigbar war, können sich natürlich noch daran erinnern, wie geschockt wir alle 1996 nach dem ersten Abstieg in der bis dahin 97-jährigen Vereinsgeschichte waren. Ein Schock, den ich übrigens bis heute noch nicht so richtig verdaut habe.

Damals hießen auf einmal die Gegner nicht mehr SSC Neapel, Juventus Turin, Bayern München oder Hamburger SV, sondern Lübeck, Meppen, Gütersloh, Zwickau oder Oldenburg. Das galt es erst mal zu verkraften. Gegner, die man zuvor allenfalls in der ersten Pokalrunde wahrnahm, gehörten nun zum Standard-Programm. Eine Liga, die sonntags in der Glotze von der Bedeutung irgendwo zwischen DTM, Heike Drechsler Portrait und Springreiten eingeordnet war, sollte nun die neue Heimat sein. Eine Heimat, die bis dahin mit dem FSV Frankfurt oder den ungeliebten Nachbarn von der anderen Mainseite besetzt war, auch wenn diese Vereine zu jenem Zeitpunkt längst in der Oberliga Hessen angesiedelt waren. Hinzu kam, dass an Spieltagen ein Menze oder Pejovic mit dem Ball ähnlich unbeholfen über den Platz stolperten, wie sich in etwa ein Maulwurf beim Tontauben-Wettschießen anstellen dürfte. Und das geschah alles in einem Eintracht-Trikot, in dem wenige Jahre zuvor noch ein Grabowski, Hölzenbein, Detari, Bein, Yeboah oder Okocha die hohe Frankfurter Fußballkunst zelebrierten, die uns doch so wohltuend von dem einfach gestrickten Kratz- und Beißfußball im Stile von Lautern oder Oxxenbach unterschied. Vorbei.

Für einen normalen Eintrachtfan, mit einem Mindestanspruch für Ästhetik, war das damals natürlich kaum noch erträglich. Die gesamte Fanszene hatte daher nur noch zwei Wahlmöglichkeiten. Entweder man verfiel in einen kollektiven dauerhaften Dämmerzustand, oder versuchte irgendwas anderes - was Neues auszuprobieren. Es wurde was Neues ausprobiert, indem Aktivitäten geboren wurden, die über das Spielfeld und den jeweiligen Spieltag hinausgingen. Im Stadion stieg die Stimmung. Man war eh quasi unter sich. Der Erfolgs- und Gelegenheitszuschauer blieb der zweiten Liga fern. Es war die Geburtsstunde von Pyros (unvergessen die Heimspiele gegen Essen oder Mainz, als die komplette Gegentribüne eingenebelt wurde), Ultra-Gedanken und Martin Stein auf der Zwischenmauer der Gegentribüne, der versuchte dem chaotischen Haufen, der sich da vor ihm versammelte, den Takt vorzugeben.

Außerhalb des Stadions bekam das Bewusstsein für Tradition und deren Pflege einen immer wichtigeren Stellenwert. Die Zeiten, in denen man sich, ohne zu murren, orange-, grün-weiße oder gelb-blaue Trikots gefallen ließ, schienen vorbei zu sein. Selbst der rot-weiße Traditionsadler aus den 60er Jahren feierte in der Szene, nicht zuletzt durch Rainer Kaufmanns Fanhouse, eine Renaissance. Um so mehr die Eintracht in der Tabelle der 2. Liga abrutschte, um so mehr erinnerte man sich den alten, den so viel besseren Zeiten.

Der Star war nun nicht mehr der Spieler. Diesen gab es eh kaum noch in der zweiten Liga. Zum Star mutierte der Verein und dessen Historie. Eine Historie, die als mentale Basis für eine hoffnungsvolle Zukunft herhalten musste. Die damalige Mannschaft wie auch die wirtschaftliche Situation konnte das nicht leisten. Aber die Vergangenheit bewies uns, dass wir zu Höherem berufen sind. Die gesamte Saison zusammenreduziert auf die erste Runde des Pokalwettbewerbs. Denn wir fühlten uns als Erstligist. Wir legten nur eine Pause ein. Und da diese schier endlos erschien, wurde auf den Rängen eine (für Deutschland) ganz neue Form des "Anfeuerns" entwickelt und abseits des Stadions der Staub von den Remington-Trikots und Grabowski-Autogrammkarte aus Papis Dachboden-Kiste gepustet.

Es passte in diese Zeit der gleichzeitig stattfindenden Neu- und Altorientierung innerhalb der Fanszene, als Jens G. (dem dieser Beitrag hier gewidmet ist *wink einmal* ) eines Tages mit einer Eintracht Langspielplatte aus den siebziger Jahren unter dem Arm zu mir kam. Keine Ahnung mehr, was der genaue Grund dafür war, aber ich legte sie gleich bei mir auf und überspielte sie per Soundkarte auf meinen Rechner und brannte sie auf CD.

Ehrensache, dass diese CD wenig später auf den damals noch eher selten stattfindenden, aber daher zu den absoluten Höhepunkten gehörenden Geiselgangster/Analsextour-Auswärtsfahrten gespielt und besungen werden musste. Ob Liesel Christ, Walter v. Mende, die Endspiel-Reportage 1959 oder eben der Polizeichor. Das alles ließ Niederlagen in Uerdingen, Gütersloh oder Jena etwas leichter verkraften. Eintracht-Oldies als Droge gegen den tristen sportlichen Alltag.

Irgendwann, mittlerweile löste der junge André Rothe den Zwischendurch-Stadionsprecher Joachim Böttcher ab, überkam mich die Idee, dass diese CD, zumindest aber ausgewählte Stücke wie z.B. "Im Wald, da spielt die Eintracht", "Schönes Frankfurt am Main" oder "Im Herzen von Europa", im Waldstadion gespielt werden sollte. Ich drückte die CD André Rothe in die Hand, mit der Aufforderung, dort reinzuhören und im Stadion abzuspielen. Ein Heimspiel später wirkte der gute André nicht wirklich begeistert von meinen Musikwünschen. Er konnte nicht verstehen, wie mir so "alte Kamellen" gefallen könnten. Ich sagte ihm einfach, dass das Eintracht-Geschichte und auf jeden Fall kultiger ist, als der ganze Peter Maffay und sonstiger Blödsinn, der seit Jahren als sogenannte Eintracht-Hymne verkauft wird. Er solle die CD einfach mal im Stadion spielen. André spielte "Im Herzen von Europa", ohne dass er dabei sonderlich glücklich wirkte. Auch im Stadion nahm das kaum jemand zur Kenntnis. Die, die es zur Kenntnis nahmen, waren entweder verzückt, weil sie es aus dem Geiselgangster-Bus kannten, oder ähnlich entsetzt wie unser Stadionsprecher.

André Rothe spielte den Polizeichor trotzdem öfters ab, ohne dass dieser auch nur annähernd den Stellenwert einnahm, den er heute hat. Als neue Hymne entpuppte sich damals Tore Netzmachers Eintrachtsong "Wenn die Sonne scheint". Der Polizeichor spielte, wenn er denn überhaupt gespielt wurde, eine Randnotiz.

Ich weiß es jetzt nicht mehr genau, wie es weiterging, aber ich glaube, nachdem der HR zwischenzeitlich kein Medienpartner mehr war, übernahm Radio FFH das Rahmenprogramm im Stadion. Tore Netzmacher, eine Produktion von HR-Mitarbeitern, spielte da keine sonderlich große Rolle mehr. Außerdem erkannten die FFH-Leute das Kultpotenzial von "Im Herzen von Europa" und blendeten sogar den Liedtext zum Mitsingen auf die Videotafel. Im Internet zog das Stück schließlich auf fast allen Fanpages seine Kreise, auf Auswärtsspielen ertönte es immer öfters im Eintracht-Block.

Wie dem auch sei, hätte mir damals einer ins Ohr geflüstert, als ich mit der CD vor André Rothe wild herumfuchtelte, dass knappe neun Jahre später bei einem Pokalendspiel in Berlin rund 30.000 Frankfurter durchdrehen, während der Polizeichor gespielt wird, wäre ich wahrscheinlich gemeinsam mit Zampe nackt durchs Waldstadion geflitzt.


Autor rigobert_g ist Andy Klünder aus Frankfurt (Eintrachtfan seit 1974).

 

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