Matthias Thoma: "Wir waren die Juddebube". Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit

"Ihr Eintrachtler, lasst euch nicht zerbrechen"

Matthias „Matze“ Thoma, die treibende Kraft des Eintracht-Museums, hat ein weiteres Buch über die Eintracht geschrieben. Doch dieses Buch behandelt nicht einen der vielen Triumphe unserer Eintracht, sondern einen dunklen, unangenehmen Teil der Geschichte unseres Vereins. „Wir waren die Juddebube“ trägt den Untertitel „Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit“.

"Das haben wir doch alle bis zum geht nicht mehr in der Schule gehabt! Außerdem ballern einem die Medien doch auch ständig das Zeug um die Ohren. Man kann´s nicht mehr hören und Neues gibt´s doch auch nicht mehr. Und: Was soll´s denn bringen?"

Es stimmt. An Informationen und Begegnungen mit der Geschichte Deutschlands von 1933 bis 1945 mangelt es nicht. Und es stimmt: Viele wollen sich einfach nicht mehr mit dieser Zeit beschäftigen. Dafür gibt es weit über die oben beispielhaft genannte Frage hinausgehende Gründe, die ich jedoch an dieser Stelle nicht näher hinterfragen will.

Doch es gibt „Neues“ zu entdecken und die gern gestellte Frage, was denn die Ereignisse von vor über 70 Jahren mit dem Deutschland von heute zu tun haben, will ich aus meiner Sicht beantworten.

Eine Demokratie mit Gewaltenteilung und Rechtstaatlichkeit sind wichtige Änderungen der Rahmenbedingungen, für ein Land, dessen Menschen der Willkür einer Diktatur unterworfen waren, aber es reicht nicht, die Rahmenbedingungen zu ändern – die Denkweise muss sich ebenso verändern. Diese kann sich aber nur verändern, wenn bestimmte Mechanismen und Vorurteile überprüft werden.

Wenn ich nun also versuche, den Bezug zu heute herzustellen, in dem ich auf den von Matze Thoma im Resümee seines Buches auf Seite 208 geschilderten Vorfall aus dem April 2002 eingehe, als Unbekannte vor dem Ligaspiel bei Hannover 96 den Frankfurter Fanblock mit „Juden-Ultras Frankfurt“ beschmierten und Aufkleber mit antisemitischen Parolen befestigten, werde ich die Antwort bekommen, dass ein paar verblendete ewig Gestrige doch nicht diese unaufhörliche Diskussion rechtfertigen können.

Sind es denn aber wirklich nur einige wenige unter uns oder sind bestimmte Vorurteile und Abneigungen nicht doch weiter verbreitet? Und gehen diese Vorurteile und Abneigungen nicht so tief und reichen sie nicht so weit zurück, dass sie sich einer Überprüfung entziehen und als gegeben hingenommen werden?

Wie kann es sonst sein, dass der damalige Präsident des Vizemeisters von 1959, Jürgen Bittdorf, nach dem Aufeinandertreffen seiner Truppe mit den Amateuren der Eintracht in der Oberliga, an dessen Rand die Polizei mehrere Anhänger der Kickers wegen des Schreiens antisemitischer Parolen in Gewahrsam nahm, der Offenbach-Post gegenüber im Interview zum Besten gibt, dass es antisemitische Äußerungen nicht gegeben habe und „Judenpack“ schon gebrüllt werde, seit es die Frankfurter Eintracht gebe? (Quelle: "Stürmen für Deutschland" von Dirk Bitzer und Bernd Wilting, Seite 55, Campus Verlag, 2003)

Abgesehen davon, dass Bittdorfs Äußerungen historisch falsch sind, sind sie erschreckend. Das ist kein Vermummter, der sich nachts in ein Fußballstadion schleicht, um seiner Dummheit und Verblendung mit dümmlichen Parolen freien Lauf zu lassen. Hier spricht der höchste Funktionär eines Fußballvereins, der nur dank unserer Eintracht nicht deutscher Fußballmeister geworden ist, aber sich immerhin mit einem DFB-Pokalsieg schmücken darf. Und er spricht nicht hinter verschlossenen Türen, sondern er findet rein gar nichts dabei, dieses öffentlich abdrucken zu lassen.

Würde manch einer, der solche Sätze sagt, ohne sich zu schämen, mal ein Buch in die Hand nehmen und vielleicht auch noch lesen, wäre einiges gewonnen. Wenn es dann noch das neueste Buch von Matze Thoma wäre, um so besser.

Bittdorf und andere können daraus beispielsweise erfahren, warum die Eintrachtler „Juddebube“ genannt wurden bzw. von einigen heute noch genannt werden. Sie würden auf eine frühe Form des Sponsorentums stoßen, auf die jüdischen Schuhfabrikanten Adler und Neumann mit ihrer Firma J. & C. A. Schneider, die fast die komplette Mannschaft, die für die Eintracht 1932 das Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft bestritt, in ihrer Hausschuhfirma beschäftigte und so auch erfahren, warum die Eintrachtspieler seit dieser Zeit auch die „Schlappekicker“ genannt werden.

Doch dazu müsste man nicht über Tradition babbeln, sondern Geschichte kennenlernen, in dem man liest und versteht, anstatt zu krakeelen oder zu fabulieren. Manch einer wählt eben den leichteren Weg, wie es scheint. Denn obwohl Matzes Buch flüssig geschrieben ist, mit vielen Anekdoten und Berichten von Zeitzeugen zu glänzen vermag, ist die Lektüre - wie erwartet - alles andere als leichte Kost.

Matze hat so nicht nur eine Lücke in der Geschichte von Eintracht Frankfurt endlich geschlossen, er hat diesem dunkelsten Teil der Geschichte unseres Vereins auch ein Gesicht gegeben oder besser gesagt: Gesichter gegeben - die Gesichter all der Menschen, die unter Unmenschen leben und leiden mussten.

Das ist beeindruckend, aber auch bedrückend. Beeindruckend, was für ein detailliertes Werk Matze mit diesem Buch abgeliefert hat. Bedrückend, wenn man die Schicksale vor Augen geführt bekommt, die vielen bisher hinter Begriffen wie "Führer-Prinzip", "Gleichschaltung" und "Arierparagraph" verborgen geblieben sind.

Im Vorwort schreibt Matze kurz über die wissenschaftliche Bewertung von Zeitzeugen. Ich habe mich gefragt, wer denn die Dokumente verfasst hat, auf die sich Wissenschaftler gerne zurückziehen?

Ich denke da beispielsweise an die (Kriegs-)Berichte eines Feldherrn namens Gaius Julius Cäsar oder eines Tacitus, der möglicherweise nicht einmal selbst in "Germanien" war, die lange Zeit und bis heute noch in Teilen der westlichen Welt und selbst in Deutschland das Bild der "Germanen" geprägt haben.

Mit anderen Worten: Ob nun mündlich oder schriftlich, ob privat oder amtlich, Berichte und Erzählungen werden immer von Menschen verfasst - keiner von ihnen, so ehrenwert seine Absichten und so fest sein Charakter auch sein mag, kann für sich eine Objektivität in Anspruch nehmen, die uns bedeuten will: So war es und nicht anders.

Geschichte ist vielschichtig und sie wird erst lebendig durch die Menschen, die sie erlebt und erlitten haben. Und das Bild wird um so vollständiger, je mehr Menschen aus ihren verschiedenen Blickwinkeln ihre eigene Geschichte erzählen.

Ich meine auch, dass es den Nachgeborenen leichter fällt, sich in eine andere Zeit hineinzudenken, wenn sie erfahren, wie die Menschen sie damals erlebt und erlitten haben – die Rechtfertigungen und Verharmlosungen von manchem Zeitzeugen, weil die „Bösen“, die Nazis, fast immer die anderen waren, zu denen man keinen oder kaum Kontakt hatte, sind natürlich. Ich stelle mich übrigens nicht über diese Menschen; ich habe Verständnis für sie und ihre teilweise beschönigende Sicht der Dinge, doch ich weiß diese Äußerungen auch zu werten.

Das ist übrigens etwas, was dieses Buch so wertvoll macht – es hält sich mit eigenen Wertungen zurück. Das war an mancher Stelle sicher besonders schwierig und auch im Allgemeinen sicher nicht einfach. Aber das macht das Buch noch wichtiger als es ohnehin schon ist. Thoma lässt dem Leser die Möglichkeit, eigene Wertungen vorzunehmen und hebt sich damit wohltuend von "Historikern" wie Knopp ab. Übrigens: Es ist nicht nur so, dass man die Gegenwart tatsächlich besser verstehen lernt, wenn man die Geschichte kennt. Auch wer nicht vergisst, kann dennoch verzeihen oder zumindest in der Gegenwart leben.

Ein Beispiel?

Emanuel Rothschild hatte als einer von wenigen Juden den Krieg in Frankfurt überlebt, war nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verhaftet und am 14. November in das KZ Dachau gebracht worden. (Das Datum seiner Entlassung ist nicht feststellbar.) Teilweise geschützt durch seine „Mischehe“ - seine Ehefrau Elise war christlichen Glaubens – wurde das Ehepaar Rothschild zwecks Ghettoisierung innerhalb Frankfurts zum Umzug gezwungen; als Anfang 1945 dann auch mit der Deportation der Juden aus „Mischehen“ begonnen wurde, tauchte Emanuel Rothschild unter und überlebte in einem Versteck.

Am 17. Dezember 1945 erfolgte die Auflösung aller Sportvereine, „damit sollte ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit des deutschen Sports gezogen werden. Lokale Neugründungen waren bei den örtlichen Militärbehörden mit einem Entnazifizierungsnachweis der Vorstandsmitglieder zu beantragen.“ (Seite 186)

Wer beantragte die Lizenz für die Neugründung der Eintracht? Emanuel Rothschild, der seit den 1920er Jahren Mitglied bei der Eintracht war.

Anstelle eines Schlusswortes von mir gebe ich das "Vermächtnis" eines Eintrachtlers wieder, der bis zu seinem Tode auch in der Ferne den Adler im Herzen trug: Arthur Cahn, der ehemalige Spieler, Vorsitzende und Pressewart, der 1936 mit seiner Schwester nach Chile geflüchtet war und unter Heimweh nach Frankfurt litt, schrieb in einem seiner letzten Briefe 1952 an seine alten Vereinskameraden:

„Ihr Eintrachtler, lasst euch nicht zerbrechen, fördert nach wie vor das Wahre, Gute und Schöne, helft der gewillten und befähigten Jugend, die Tradition zu erhalten, und schätzt den Geist und den zähen Willen der Alten und Ältesten, die zum Wiederaufbau stehen, und grüßt mir mein schönes Frankfurt und meine Eintracht.“

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Matthias Thoma: "Wir waren die Juddebube". Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit.
240 Seiten. Verlag die Werkstatt. Göttingen. 2007. 19,80 Euro


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