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Hansa Rostock - Eintracht Frankfurt |
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Bundesliga 1991/1992 - 38. Spieltag
2:1 (0:0)
Termin: Sa 16.05.1992 15:30
Zuschauer: 25.000
Schiedsrichter:Alfons Berg (Konz)
Tore: 1:0 Jens Dowe (65.), 1:1 Axel Kruse (67.), 2:1 Stefan Böger (89.)
Hansa Rostock | Eintracht Frankfurt |
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Das Rostock-Trauma Die Woche vor dem großen Spiel begann gewohnt hektisch. Die FIFA hatte für den 14. Mai eine Verhandlung im Fall Möller angekündigt. Doch Andreas Möller kam der Sitzung zuvor. Bereits einen Tag nach dem 2:2 gegen den SV Werder Bremen flog er mit Gerster heimlich nach Turin und setzte bei Juventus seine Unterschrift unter einen Vertrag zum 1. Juli 1992. Gleichzeitig bot er großzügig eine Option an, nach der er noch ein Jahr in Frankfurt bleiben könnte. „Wir haben alles versucht, um ein optimales Ergebnis zu erreichen“, sprach Andreas und erinnerte an seine „moralische Verpflichtung“. Tatsächlich dürfte er eher eine Vereinbarung im Kopf gehabt haben, die ihn zu einer Zahlung von fünf Millionen Mark an die Eintracht verpflichtete, sollte er Frankfurt bereits 1992 verlassen. Hölzenbein lehnte Möllers „Entgegenkommen“ dankend ab. Von den erneuten Eskapaden Andreas Möllers ließ sich die Eintrachtgemeinde jedoch nicht mehr aus der Ruhe bringen. Zu oft hatte es in der Saison schon Theater rund um den selbsternannten „Frankfurter Bub“ gegeben. Und der Ärger hatte offensichtlich nie geschadet - hatte die Eintracht doch gerade nach Querelen oft wie entfesselt aufgespielt. Insofern wurde der erneute Ärger in gewisser Weise als positives Omen für das anstehende Endspiel gewertet. Die Eintracht hatte vor Rostock alle Trümpfe in ihrer Hand. Punktgleich lag sie mit dem VFB Stuttgart und Borussia Dortmund an der Spitze, hatte aber das weitaus bessere Torverhältnis (SGE: +36, VFB: +29, BVB: + 18.) Ein Sieg bedeutete quasi die Meisterschaft, sollte nicht der VFB haushoch in Leverkusen gewinnen. Bei einem Unentschieden in Rostock durften auch die beiden Verfolger ihre Spiele nicht gewinnen. Eine Niederlage der Eintracht würde ihr ebenfalls die Meisterschale bescheren, wenn der VFB und der BVB ebenfalls verlieren würden. Aber auch für die Gegner der Meisterschaftskandidaten ging es noch um einiges. Rostock und Duisburg durften bei einem Sieg noch auf den Klassenerhalt hoffen und Leverkusen wollte in den Europapokal. An eine mögliche Niederlage in Rostock dachte bei der Eintracht allerdings keiner. Immerhin war die Mannschaft seit 13 Spielen ungeschlagen und überdies mit acht Siegen in der Fremde die beste Auswärtsmannschaft der laufenden Saison. Hansa Rostock hingegen hatte die letzten fünf Spiele in Folge verloren. Die Konstellation „ungeschlagen“ und „sieglos“ hätte eigentlich jeden Eintrachtler skeptisch machen müssen. Ebenso eine kleine Parallele, die noch einer endgültigen Bestätigung bedurfte: die Statistik gegen die beiden „Ost-Neulinge“. Beide Heimspiele gegen die Ostvertreter hatte die Eintracht gewonnen. Das Auswärtsspiel in Dresden allerdings ging verloren - mit 1:2. Zwischen dem 10. und 16. Mai schwebte Frankfurt im Meisterschaftswahn. Die Zeitungen berichteten teilweise ganzseitig über die Eintracht. Die Helden von 1959 waren wieder in aller Munde und mussten Auskunft geben, was es denn für ein Gefühl sei, die Meisterschale in den Händen zu halten. Auf allen Radiokanälen war das letzte Saisonspiel der Eintracht Thema Nummer Eins. Für Fans, die nicht nach Rostock reisen konnten, wurde auf dem Paulsplatz eine große Videoleinwand aufgebaut. Rostock mobilisierte die Massen. Während der ganzen Saison war die Eintracht in der Zuschauerstatistik nicht über Platz 7 hinausgekommen. Während die Stadien bei Auswärtsspielen der Eintracht oft ausverkauft waren, kamen in Frankfurt im Schnitt gerade mal 30.178 Fans. Die fast 700 Kilometer bis Rostock wollten jetzt aber Tausende von Frankfurtern gerne in Kauf nehmen. Jeder wollte dabei sein, wenn Uli Stein mal wieder den Zaun vor der Frankfurter Kurve erklimmen würde. Wie würde er sich wohl diesmal anstellen, wenn er dabei beide Hände voll hätte? Trainer Stepanovic hatte vor dem Spiel einige Sorgen. Die Verletztenliste war lang. Gründel, Bein, Sippel, Studer und Bindewald waren angeschlagen. Plötzlich stand eine Alternative im Raum, die spaßeshalber schon einige Male diskutiert wurde. Co-Trainer Charly Körbel wurde in seiner aktiven Zeit mit der Eintracht nie Meister. Ab und an wurde gescherzt, dass Körbel die letzten Minuten in Rostock spielen dürfte, wenn die Meisterschaft am letzten Spieltag bereits entschieden wäre. So hätte der treue Charly auch als Spieler den Titel „Deutscher Meister“ errungen. Aber nun wurde aus dem Spaß Ernst. In den Tagen vor dem 16. Mai trainierte Körbel plötzlich wieder mit der Mannschaft und Mitte der Woche verkündete Stepanovic: „Wenn jetzt noch einer in der Abwehr ausfällt, sitzt Charly mindestens als Auswechselspieler auf der Bank.“ Aber nach und nach entspannte sich die Lage. Natürlich wollte sich kein Spieler das alles entscheidende Spiel entgehen lassen. Und dann begann für Spieler, Funktionäre und Fans das Abenteuer Rostock, an dessen Ende der Gewinn der Deutschen Meisterschaft stehen sollte. Freitag, 15. Mai 1992 Am 15. Mai um 11 Uhr 15 startet die Eintracht mit einer Sondermaschine in Richtung Meisterschale. Da es in Rostock keinen Flughafen gibt, landet der Flieger im zirka 50 Kilometer entfernten Barth. Bei wunderschönem Wetter beziehen die Spieler im Grandhotel in Müritz ihre Zimmer. Abends gibt es ein lockeres Training, um vom kommenden Tag etwas abzulenken. Während die Spieler in der Abendsonne von Müritz Flanken schlagen und Kopfbälle versenken, drängt es viele Eintrachtfans noch einmal vor den Fernseher. Der Hessische Rundfunk sendet im Dritten Fernsehprogramm das Endspiel von 1959. Kaum einer kann sich an die Ereignisse von damals erinnern, aber jeder möchte schon am Abend vor dem großen Tag die Meisterschale in den Händen von Eintrachtspielern sehen. Im Laufe des Abends machen sich dann nach und nach mehr als 10.000 Anhänger auf den Weg Richtung Rostock. Vom Bahnhof Sportfeld aus starten zwei Sonderzüge. Außerdem fahren mehr als 80 Busse und unzählige Privatwagen an die Ostsee. Bereits in der Nacht erreichen die ersten Fans die Hansestadt. Treffpunkt ist für viele der Parkplatz vor dem Stadion. Hier reihen sich die Autos mit hessischem Kennzeichen aneinander. In der lauen Frühlingsnacht werden einige Bier getrunken, bevor sich viele Eintrachtler noch einmal ein paar Stunden schlafen legen und vom bevorstehenden großen Tag träumen. Samstag, 16. Mai 1992 Nach und nach treffen immer mehr Eintrachtfans in der Hansestadt ein. Haupttreffpunkt für sie ist die Fußgängerzone von Rostock. Andere nutzen das schöne Wetter, um noch einmal am Strand der Ostsee die stinkenden Füße ins Wasser zu strecken. Fansprecher Anjo Scheel hat ganz andere Sorgen. Der Bus der Frankfurter Adlerfront ist von der Polizei direkt zu einer Turnhalle geleitet worden. Aus Angst vor Randale sollen die Jungs dort vorsorglich in Gewahrsam genommen werden. Zusammen mit den Frankfurter Zivilbeamten versucht Anjo, die Hools frei zu bekommen: „Für die Jungs ist das die erste Möglichkeit, Meister zu werden. Was meinen Sie, was hier los ist, wenn Sie die nicht ins Stadion lassen und die Eintracht holt den Titel?“ Während an einem Ausgang der Turnhalle wild diskutiert wird, schleichen sich einige Hools heimlich aus dem anderen, unbewachten Ausgang. Gut 20 Frankfurtern gelingt die Flucht nicht. Sie verbringen den Nachmittag in der Turnhalle, ausgestattet mit einem kleinen Transistorradio. Gegen 15 Uhr ist die Gästekurve im Ostseestadion bereits gut gefüllt. Auch auf der Gegentribüne haben sich Tausende von Eintrachtfans versammelt. Viele Frankfurter inspizieren als erstes den Zaun (gefährliche Zacken!) zum Spielfeld. Zur Meisterfeier will man natürlich den Platz stürmen. Als die Mannschaften das Feld betreten, um sich warm zu machen, flitzen schon die ersten Fans auf den Platz. Sie wünschen den Spielern viel Glück und kehren unbehelligt zurück in den Fanblock. Während in den Frankfurter Blöcken im Ostseestadion gespannte Erwartung herrscht, regiert im KOZ an der Frankfurter Uni derweil das helle Chaos. Auch Günter aus dem Tannenbaum, einer Bockenheimer Kneipe, kann es nicht fassen. Zusammen mit mehreren hundert Eintrachtfans hockt er im völlig überfüllten Saal. Die Veranstalter haben eine Übertragung des Spiels versprochen, werkeln jetzt aber hektisch an der Satellitenschüssel herum. Auf der aufgebauten Videowand tut sich nicht viel. Um 15 Uhr l5 dann die Durchsage „Sorry, die Technik versagt“. Zusammen mit seinem kleinen Sohn drängt Günter in Richtung des viel zu kleinen Ausgangs. Kurze Zeit später bildet sich der einzige Eintrachtkonvoi des Wochenendes. Von der Bockenheimer Warte aus rasen die meisten Fans per Fahrrad zur Videowand am Paulsplatz, um doch noch etwas vom Spiel mitzubekommen. Auch dort herrscht großes Gedränge. Etwa 4000 Fans haben sich hier versammelt, um den Titel gemeinsam zu feiern. Ostseestadion Rostock, 15 Uhr 30 Um 15 Uhr 30 beginnt das Spiel, das für viele Spieler und Fans der Höhepunkt ihrer Karriere werden soll. Die Eintracht spielt mit folgender Aufstellung: I Stein, 2 Roth, 3 Weber, 4 Bindewald, 5 Binz, 6 Frank Möller, 7 Andreas Möller, 8 Falkenmayer, 9 Yeboah, 10 Bein, 11 Kruse. Stepanovic hat sich im Sturm für Kruse entschieden, weil er glaubt, dass der Ex-Rostocker gegen seine alten Kameraden besonders motiviert sein wird. Leidtragender dieser Maßnahme ist Andersen, der auf der Tribüne Platz nehmen muss. Für Verwunderung sorgt auch die Tatsache, dass Frank Möller von Anfang an spielt. Während über dem ausverkauften Ostseestadion ein Flugzeug mit einer „Hansa for ever“-Fahne kreist, pfeift Schiedsrichter Alfons Berg die Begegnung an. Die Eintracht hat Anstoß und erhält bereits nach wenigen Sekunden einen Freistoß in der Hälfte der Hansa. Bein schlägt einen Pass in den Strafraum, Yeboah kommt an den Ball und flankt, aber die Rostocker Abwehr schlägt den Ball aus der Gefahrenzone. Danach ist Hansa am Drücker, doch zwei Ecken bringen zwar eine gute Chance, aber kein Tor. Zusätzliche Motivation erhalten die Hanseaten von der Auswechselbank. Gladbach ist in Wattenscheid mit 1:0 in Führung gegangen. Die Nachrichten, die die Eintracht betreffen, sind weniger gut. Um 15 Uhr 38 macht der BVB in Duisburg das 1:0 und übernimmt damit die Tabellenführung. Die Eintracht muss jetzt gewinnen und in der 13. Minute gelingt ihr fast die erlösende Führung. Binz hat Andreas Möller mit einem tollen Steilpass bedient, doch der scheitert an Hoffmann. Unmittelbar danach wird Kruse am Rostocker Strafraum gefoult. Der Ball gelangt allerdings zu Weber, der frei vor dem Rostocker Tor auftaucht Aber Schiri Berg pfeift den Vorteil ab und gibt Freistoß für Frankfurt. Binz schießt über das Tor. Um 15 Uhr 48 verkündet die Anzeigetafel das 1:0 für Leverkusen gegen Stuttgart. Bei den Fans keimt Hoffnung auf und sie stimmen zum letzten Mal in der Saison das Lied vom Deutschen Meister, der nur die SGE sein wird, an. Aber die Eintracht spielt nervös gegen die tapfer kämpfenden Rostocker. Uwe Bein wird eng gedeckt und kann kaum Akzente setzten. Und Andreas Möller scheint vollkommen von der Rolle. Das Spiel läuft scheinbar an ihm vorbei. Bei einem Rückpass von Roth auf Stein ist um ein Haar Weichert dazwischen. Ein Schuss von Spiess streift aus 20 Metern Entfernung knapp am Frankfurter Tor vorbei. Ein TV-Reporter, der auf der Tribüne Statements von Prominenten einfängt, verkündet in diesen Minuten „Bernd Hölzenbein ist nicht ansprechbar“. Der Vizepräsident sitzt kreidebleich und bewegungslos auf seinem Platz. In der 26. Minute hat die Eintracht wieder eine große Chance. Der überragende Falkenmayer spielt auf Kruse, doch dessen Heber wird vom herauslaufenden Hoffmann mit einer Hand abgewehrt. Fast im Gegenzug wieder Hansa. Ein 20-Meter Schuss von Spies wird von Roth abgefälscht und geht knapp am Frankfurter Gehäuse vorbei. Dann endlich ein Traumpass von Uwe Bein. Er bedient Andreas Möller, doch der legt sich den Ball zu weit vor. Hansa-Torwart Hoffmann ist dazwischen. Um 16 Uhr 11 gelingt dem VFB Stuttgart in Leverkusen dank eines geschenkten Elfmeters der Ausgleich. In Wattenscheid steht es zu dem Zeitpunkt 2:1 für Mönchengladbach. Zur Halbzeit ist die Eintracht hinter dem BVB Tabellenzweiter, Rostock steht auf dem vorletzten Tabellenplatz, allerdings punktgleich mit dem Tabellenfünfzehnten Wattenscheid. Ein Sieg würde Hansa Rostock zu diesem Zeitpunkt vor dem Abstieg retten. Die Eintracht startet engagiert in die zweite Halbzeit. Bereits in der 46. Minute setzt sich Weber auf der linken Seite durch und flankt in die Mitte. Der Ball wird abgefälscht und kommt zu Kruse, der donnert ihn volley über das Tor. In der 52. Minute bringt Stepanovic Lothar Sippel (12) für Frank Möller. Die Eintracht macht weiter Druck. Bein schießt einen Freistoß aus gut 30 Metern Entfernung ins linke untere Eck, Hofmann hält. In der 60. Minute macht Böger fast sein fünftes Saison-Eigentor. Doch der hohe Rückpass verfehlt den Torhüter, leider auch knapp das Tor. Kurz darauf ist Andreas Möller mit dem Ball im Strafraum, doch seine Flanke wird abgeblockt. Im Gegenzug fällt das zu dem Zeitpunkt überraschende 1:0 für Hansa. Dowe läuft seinem Bewacher Roth davon und schiebt eine Flanke zum 1:0 in die Maschen. In der Frankfurter Kurve brechen jetzt nicht nur Welten zusammen. Auch die ein oder andere morsche Holzbank geht zu Bruch. Die unglaubliche Anspannung in den total überfüllten Blöcken sucht sich ein Ventil. Während Trainer, Spieler und Fans noch schockiert sind, ist einer schon wieder am Anfeuern: Ersatztorwart Thomas Ernst rennt an die Seitenlinie und treibt die verstörten Frankfurter Spieler verzweifelt nach vorne. In der Situation muss Stepanovic handeln. Körbel marschiert mit Edgar Schmitt Richtung Spielfeld. Schmitt soll für Kruse ins Spiel kommen. Immerhin hat er in der Woche vor dem Spiel mehrfach angekündigt, das entscheidende Tor für die Eintracht zu machen. Die geplante Einwechslung verzögert sich, weil die Eintracht schon wieder angreift. Weber setzt sich einmal mehr auf der linken Seite durch, flankt hoch in den Strafraum und ausgerechnet der Spieler, der eigentlich ausgewechselt werden sollte, trifft per Kopf zum Ausgleich. Jubel auf Frankfurter Seite. Aber noch ist es kein befreiender Jubel. Die Anspannung bleibt. Ein Tor fehlt. Trotz dichter Polizeikette toben die Fans am Zaun. Der Stadionsprecher meldet sich zu Wort: „Liebe Fans aus Frankfurt, bitte lassen Sie unsere Zäune heil. Wir brauchen sie auch noch im nächsten Jahr.“ Nach Kruses Tor wird die Einwechslung von Schmitt um einige Minuten verschoben. Die Eintracht stürmt weiter. Bindewalds Flanke faustet Hoffmann aus dem Strafraum, Kruse schießt aus spitzem Winkel über das Tor. Kurze Zeit später läuft Kruse auf das Rostocker Tor zu, aber Hoffmann springt wie Oli Kahn zu besten Zeiten in den Frankfurter Stürmer. Kruse geht zu Boden, der Ball kommt zu Yeboah. Doch der schießt aus spitzem Winkel am leeren Tor vorbei. Die Anspannung im Stadion ist längst unerträglich. Charly Körbel rennt in die Kurve und fordert die Fans mit rudernden Armbewegungen auf, die Mannschaft weiter anzufeuern. Edgar Schmitt (15) kommt für den erschöpften Kruse. Um 17 Uhr 02 geschieht dann das Unfassbare, dass viele Frankfurter bis heute nicht verarbeitet haben. Es läuft die 76. Spielminute und die Eintracht startet den vielleicht schönsten Angriff des Spiels, eine letzte Hommage an den Fußball 2000. Der unermüdliche Weber spielt den Ball steil an den Strafraum auf Bein, der köpft weiter auf Andreas Möller. Andreas Möller spielt ebenfalls per Kopf weiter zu Yeboah. Der Stürmer ist im Strafraum von einem Gegenspieler bedrängt, lässt die Kugel aus diesem Grund einfach nur abtropfen und bringt damit den mitgelaufenen Weber in eine optimale Schussposition. Weber ist etwa sieben Meter vor dem Tor frei und unbedrängt am Ball. Den einzigen Gegenspieler bindet Yeboah. Torwart Hoffmann klebt als kleines, unbedeutendes Hindernis auf dem Weg zu Glanz und Gloria ängstlich auf der Linie. Weber läuft einen Schritt mit dem Ball und will die begehrte Schale nach Frankfurt schießen, als ihm der Rostocker Böger von hinten die Beine wegtritt. Weber fällt und der Ball trudelt ins Toraus. Schiedsrichter Berg zögert nicht lange. Er hebt seinen Arm - und entscheidet auf Torabstoß! Ungläubiges Entsetzen bei allen Frankfurtern. Jeder im Stadion hat das glasklare Foul gesehen. Aber Berg lässt weiterspielen. Auch die Linienrichter wollen nichts gesehen haben. Weber rastet zum ersten Mal aus. Er läuft dem Schiri über den halben Platz hinterher und ist auch kaum zu beruhigen, als das Spiel längst wieder läuft. Mehrfach muss Manni Binz mit Gewalt verhindern, dass Weber dem Schiedsrichter an den Kragen geht. Auch Charly Körbel ist an der Seitenlinie kaum zu halten. Vor lauter Wut reißt er die Fahne an der Mittellinie aus der Verankerung und wirft sie auf den Boden. Währenddessen geraten im Frankfurter Fanblock immer mehr Fans mit der aufmarschierten Polizei aneinander. Kurz nach dem Foul an Weber wird Sippel am Rostocker Strafraum zu Fall gebracht. Hoffmann hält den von Bein getretenen Freistoß. Während der ausgewechselte Kruse von Premiere am Spielfeldrand interviewt wird („Einen besseren Elfmeter gibt es nicht. Der Ralf war doch durch, er musste nur noch schießen“) hat Spies eine große Chance, aber Stein rettet. Danach wieder die Eintracht. Joker Sippel trifft zum 2:1, aber Berg erkennt das Tor wegen eines Handspiels von Bein nicht an. In der 85. Minute meldet sich erneut der Stadionsprecher zu Wort. „Wenn es in Rostock eine Meisterehrung geben sollte, bitten wir Sie, auf Ihren Plätzen zu bleiben“. Der Hinweis zu diesem Zeitpunkt unterstreicht noch die Tragödie, die sich gerade in den Sekunden auf dem Rasen abspielt. Denn während der Stadionsprecher noch spricht, trifft Edgar Schmitt aus gut 16 Metern nur den Innenpfosten. In den letzten Minuten wirft die Eintracht verzweifelt alles nach vorne, noch einmal scheitern Bein und Andreas Möller an Hoffmann. In der 92. Minute schließlich macht Böger das 2:1 für Rostock, nachdem er zuvor den weit aufgerückten Stein umspielt hatte. Das war's. Viele Spieler liegen enttäuscht auf dem Platz. Sie müssen sich noch einmal aufraffen, für einige Sekunden pfeift der Schiri noch mal an. Als dann der endgültige Schlusspfiff erfolgt, herrscht auf Frankfurter Seite das heulende Elend. Meister ist der VFB Stuttgart. Und das dank eines geschenkten Elfmeters für die Schwaben. Auch die Rostocker können sich über den Sieg nicht lange freuen. Kickers Stuttgart und Wattenscheid haben ihre Spiele gewonnen. Rostock ist abgestiegen. Nur wenige Eintrachtspieler suchen nach dem Abpfiff den direkten Weg in die Kabine. Viele sitzen, umringt von sensationsgeilen Fotografen, minutenlang auf dem Rasen des Ostseestadions. Anders Ralf Weber. Der 23-Jährige, dem in der Saison drei klare Elfmeter verweigert wurden und der in Rostock eine überragende Partie gespielt hat, will dem Schiri an den Kragen. Zu dritt halten Binz, Andreas Möller und ein Betreuer den restlos aufgebrachten Weber auf und bewahren Alfons Berg so vor einer Tracht Prügel. Im Würgegriff seiner Kollegen tritt Weber immerhin noch eine Fernsehkamera zu Bruch, bevor er zusammenbricht. Auf dem Weg in die Kabine muss das Rotz und Wasser heulende Häufchen Elend von drei Mann gestützt werden. Derweil sitzen viele Fans noch auf ihren Plätzen. Auch eine viertel Stunde nach Spielende ist die Eintrachtkurve gut gefüllt. Kaum einer kann glauben, was in der zweiten Halbzeit geschehen ist. Wir sollten heute Meister werden - von solch einem Erlebnis hat keiner geredet. Die Martinshörner der vor dem Stadion auffahrenden Polizeiautos holen viele benommene Fans in die harte Realität zurück. Auf dem Stadionvorplatz kloppen sich die Hooligans beider Lager. Nostalgische DDR-Wasserwerfer fahren auf. Endzeitstimmung. In der Kabine herrscht Totenstille. Es dauert einige Zeit, bis Uli Stein sich an seine Mannschaftskameraden wendet. Nutzlose Worte, von wegen „stolz auf das Team“, „jetzt erst recht“ und „moralischer Meister“. Worte, die man allerdings von Uli Stein nicht unbedingt erwartet hatte. Viele dachten, dass der Vulkan ausbricht, sollte die Meisterschaft vergeigt werden. Die kleine Rede von Stein kommt bei den Kollegen überraschend gut an. Danach marschiert der Kapitän zur Schiedsrichterkabine. Er spricht mit Alfons Berg und entschuldigt sich für die Frankfurter Ausraster, vor allem den von Ralf Weber. Nach dem Duschen stellt sich Alfons Berg den wartenden Reportern und räumt seinen Fehler ein: „Wenn man die Szene im Fernsehen sieht, kann man sicher der Meinung sein, dass es ein Elfmeter war. Es tut mir leid für die Eintracht, aber das nützt ja nichts mehr.“ Auf der unendlich langen Busfahrt zum Flughafen hält der Frankfurter Mannschaftsbus vor Klein-Kusewitz an. Aus dem Kofferraum wird der Champagner rausgeholt. Uli Stein legt Queen ein. „The show must go on“. Die Spieler ergeben sich dem Alkohol. Als die Eintracht spät am Abend wieder in Frankfurt landet, geht die Mannschaft trotz der Enttäuschung geschlossen zur organisierten Feier ins Sheratonhotel am Flughafen. Der große Festsaal ist höchstens zu einem Drittel gefüllt, das Plakat „Deutscher Meister 92“ haben die Hotelangestellten rechtzeitig abgehängt. Der offizielle Teil der Feier ist nach ein paar Worten von Oberbürgermeister von Schoeler und Präsident Matthias Ohms in knapp acht Minuten abgehandelt, danach singt der „Hanauer Beat Express“ hilflos gegen die deprimierte Stimmung an. Hektisch wird es noch einmal kurz vor Mitternacht. Klaus Gerster stürmt wutschnaubend in den Ballsaal und sucht ZDF-Mann Reif, um ihn zur Rede zu stellen. Zu Hause vor dem Fernseher hatte er gesehen, wie Reif spekulierte, dass „Gerster entlassen wird und schon Binz bei Bergamo angeboten haben soll.“ Der Anblick von Gerster ist für viele Gäste an diesem Tag zu viel des Schlechten. Die Stimmung ist jetzt hochgradig gereizt. Nach kurzer Absprache zwischen Stein und Ohms komplimentiert der Präsident seinen beurlaubten Manager vor die Tür. Die Nacht nach Rostock verbringt die Mannschaft im Hotel. Viel schlafen kann keiner. Einige versuchen sich in der Disco abzulenken, andere versenken ihren Frust in Cocktails und Bier. Am nächsten Morgen steht die gemeinsame Fahrt zum Rathaus an. Im Römer soll es trotz der verpassten Meisterschaft einen Empfang geben. Sonntag, 17. Mai 1992 Die Stimmung bei den Spielern ist am Morgen des 17. Mai 1992 immer noch auf dem Nullpunkt. Keiner hat Lust, sich im Römer noch einmal Reden anzuhören und danach einer Hand voll Fans auf dem Römerberg zuzuwinken. Trotzdem fahren alle gemeinsam in die Stadt Während der Fahrt hat keiner eine Ahnung davon, was bereits auf dem Römerberg los ist. Natürlich sind auch die Fans wahnsinnig enttäuscht. Aber viele haben sich auf der nächtlichen Heimfahrt vom Ort des Grauens überlegt, dass die Mannschaft auf jeden Fall ein Dankeschön verdient hat. Immerhin hat sie in der vergangenen Saison oft begeisternd gespielt und zur Meisterschaft fehlte ihr letztlich nur ein Quäntchen Glück. So machen sich im Laufe des Vormittags viele enttäuschte, übermüdete Fans auf den Weg zum Römer. An Schlaf mag eh kaum einer denken. Als die Mannschaft das altehrwürdige Rathaus betritt herrscht auf dem Römerberg trotzige Stimmung. Während im Kaisersaal mehr Gemälde von gekrönten Häuptern ernst von der Wand blicken als traurige Gäste vor Ort sind, haben sich draußen gut 5.000 Fans eingefunden. Und als die Spieler den Balkon betreten und die Massen sehen, trauen sie ihren Augen kaum. Die Fans singen vom „Deutschen Meister“, diesmal aber vom „wahren Deutschen Meister“. Gegenseitig putscht man sich auf. Die Fans feiern die Mannschaft und schimpfen auf den Schiedsrichter. Einige Spieler finden vorübergehend ihre gute Laune wieder, tanzen und strippen auf dem Balkon des Römers und schimpfen auf den Schiedsrichter. Den Höhepunkt findet die Saisonabschlussfeier im gemeinsamen Auftritt von Lothar Sippel und den Rodgau Monotones. Aus ganzem Herzen schmettern sie mit den Fans das Lied des Tages: „Frach mich net, wie's mir geht“. In seinem Buch „Halbzeit“ beschreibt Uli Stein 1993, dass in den Stunden am Frankfurter Römer so etwas wie der „Geist vom Römer, der Schwur auf die verlorene Meisterschaft“ entstand. Und tatsächlich. In den Wochen nach der Niederlage von Rostock rückt die Mannschaft entgegen vieler Befürchtungen enger zusammen. Die Fans feiern ihr Team in den noch anstehenden Freundschaftsspielen als den „wahren Meister“. Andreas Möller hat andere „moralische Verpflichtungen“ und verlässt die Eintracht in Richtung Italien, natürlich ohne die vereinbarten fünf Millionen Mark zu zahlen. Der Streit um das Geld wird sich noch über Jahre hinziehen, am Ende zahlt Andreas Möller immerhin 3,2 Millionen. Bereits vier Tage nach dem Spiel von Rostock entlässt die Eintracht den beurlaubten Klaus Gerster fristlos. Die Mannschaft konzentriert sich auf die kommende Saison. In Rostock ist man knapp an der Meisterschaft gescheitert. Im nächsten Jahr soll das nicht passieren ... (aus: Matthias Thoma/Michael Gabriel. Das Rostock-Trauma. Geschichte einer Fußballkatastrophe)
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