Eintracht Frankfurt - Glasgow
Rangers |
Europapokal der Landesmeister 1959/60 - Halbfinale, Hinspiel
6:1 (1:1)
Termin: 13.04.1960, 20:00
Zuschauer: 75.069
Schiedsrichter: Lindberg (Schweden)
Tore: 1:0 Dieter Stinka (28.), 1:1 Caldow (29., Elfmeter), 2:1 Alfred Pfaff (52.), 3:1 Alfred Pfaff (55.), 4:1 Dieter Lindner (73.), 5:1 Dieter Lindner (84.), 6:1 Erwin Stein (87.)
Eintracht Frankfurt | Glasgow Rangers |
|
|
Trainer | Manager
|
6:1 So ein Tag, so wunderschön wie heute... 6:1 Der große „Neue Sport"-Sonderbericht vom Stadion-Spiel geschrieben von Erich Wick, Bert Merz, Ludwig Dotzert und Horst Kickhefel Wir haben das Spiel, in dem die Frankfurter Eintracht den schottischen Meister Glasgow Rangers niederspielte, wie britische Profis bisher kaum jemals niedergespielt wurden, nicht nur an Ort und Stelle gesehen, im lichtdurchfluteten Frankfurter Stadion. Um uns zu überzeugen, daß wir nicht geträumt hatten, sind wir nach dem Schlußpfiff zum nächsten Fernsehgerät geeilt und haben unsere Eindrücke an Hand der unbestechlichen Bildaufzeichnungen überprüft. Wir haben anschließend Erinnerungen gewälzt, die bis in die Inflationszeit zurückreichen. Es bleibt dabei. Diese anderthalb Stunden waren das Größte, was je im Treffen zweier Vereinsmannschaften auf Frankfurter Fußballerde geboten wurde. Wir sprachen bewußt von anderthalb Stunden, von dem Spiel als Gesamtkomplex. Die Eintracht mußte durch die Schrecken der ersten Halbzeit, durch Zweifel und Kleinmut hindurch wie durch ein läuterndes Feuer, um sich nach dem Wechsel zu ihrem eigenen Ideal zu verwirklichen. Das eine war die Voraussetzung des andern. Das Pflaster mußte erst heiß werden, um die Absätze wirbeln zu machen. Der Elfmeter mußte erst verschossen und das Gegentor erst eingesteckt sein, ehe die „Alles-oder-nichte-Psychose" auflohte. Die erste Halbzeit ist auch deshalb wichtig, weil man ohne sie nicht erkannt hätte, welch hochklassige Mannschaft es war, die später unter die Räder kam. Da fehlte kein Sück von dem, um das die kontinentalen Fußballer ihre Vorbilder von der Insel ein halbes Jahrhundert nur beneiden konnten. Wie mit einem harten Griffel wurden die Kombinationen in den Rasen geritzt. Wie Pfähle standen die zum Kopfball hochgesprungenen Athleten in der Luft. Mit herrlicher Mühelosigkeit vermochte jeder einzelne Fünfzigmeterflugbälle aus dem Fußgelenk zu schütteln. Erstaunlich die Kräfte, die beim Tackling, in den Schultern wirksam wurden. Zwischen der Minute des verschossenen Elfmeters und der Minute des Führungstors von Stinka herrschten die Schotten fast unumschränkt. Ihr Urteil war gesprochen, als sich die Eintracht ihren Inspirationen überließ, als Pfaff seine Riederwälder aus der Bedrängnis herausgesteuert hatte, als der Funke zu Lindner übersprang und als Stinka sein Selbstvertrauen fand. Was jetzt kam, dem standen die britischen Fußballbeamten gegenüber wie böhmischen Dörfern. Was jetzt kam, das gab's für sie einfach nicht. Unverdrossen bis zur Verstocktheit leisteten sie bis zum Schluß ihr Pensum ab, wurden auf ihre Art hin und wieder sogar brandgefährlich und hielten sich streng an die Faustregeln. Unterdessen jedoch spielte die Eintracht ihr Spiel für sich. Das schottische Meisterteam wurde nicht „zerfleischt", wie eine englische Zeitung schrieb. Es wurde auch nicht umgerannt oder zerschmettert. Es wurde durchsiebt. Durchsiebt von den Geistesblitzen eines Gegners, dessen Aktionen immer spitzer wurden. Mag beim Rückspiel in Glasgow geschehen, was da wolle, es wird den Eindruck nicht verwischen können, daß sich im Frankfurter Stadion zwei Welten begegneten. In der Welt der Schotten hat man allem Anschein nach zum letztenmal während den zwanziger Jahren ernsthaft über Fußball nachgedacht, als Arsenal das WM-System erfand. In der andern Welt, zu der die Eintracht gehört, befindet sich dagegen alles in Gärung. Wie sagte Rangers Manager Scott-Symon am Tag vor dem Treffen: „Wir gehen auf den Platz und spielen unser Spiel. Alles andere interessiert uns nicht." Er hatte vom Europa-Cup nichts gesehen außer den Begegnungen, an denen seine Mannschaft teilnahm. Diese Bekenntnisse einer stockkonservativen Seele erklären vieles. Die plausibelste Erklärung freilich lieferten die Riederwälder selbst. Sie legten sich ins Zeug wie eine Marineauswahl im Jahre 1905 und realisierten eine Spielauffassung wie ein Meisterteam von 1965. Sie waren unheimlich. Ludwig Dotzert
Das Tore-Glück der Eintracht stellte sich in diesem unvergeßlichen Spiel erst spät ein, dann allerdings in einem ungeahnten Ausmaß. Obwohl die erste halbe Stunde fast ohne Treffer blieb, war sie schon genauso spannend und dramatisch wie die anschließende große Stunde. Dafür sorgten die Eintracht und die Rangers zunächst im gleichen Maße. Wenn der „schottische Kahn", namens Scott, mit dem Ball vor Höfer stand, hielten die 77.000 im Stadion für einen Moment den Atem an. Aber es ging alles gut, da Loy zweimal auf dem Posten war, auch als Millar flach und hart auf die Ecke zielte, und dann Höfer sofort gegen Scott den Bogen heraus hatte. Aber noch machten die tollen Kopfbälle der Schotten, von denen einer von Murray die Querlatte streifte, Sorgen. Ganz untätig waren schließlich die Eintrachtstürmer in diesen noch nervösen Anfangsminuten auch nicht. Pfaff schoß zweimal, ohne zu zögern. Aber viel zu hoch lagen seine Bälle. Nach acht Minuten preschte Kreß hinter der Mittellinie davon, legte sich den Ball weit an Little vorbei, überspurtete den Schotten und wurde nach dem Passieren der Strafraumlinie vom Stopper Patterson ins Gras „befördert". Den Elfmeter, den der hervorragende schwedische Schiedsrichter Lindtoerg verhängte, verzielte der gute Richard. Aber die Verwirrung, die nach dieser großen Chance um sich griff, war nicht von Dauer. Als in der 17. Minute ein feiner Zug über die rechte Seite mit einem sauberen Flachschuß Lindners abschloß, der nur um Zentimeter die lange Torecke verfehlte, kehrte die Sicherheit ins Eintrachtteam langsam wieder ein. Ein überhasteter Linksschuß von Stein hatte noch nicht die Richtung, aber um so genauer saß Stinkas Führungstreffer in der 29. Minute unter der Torlatte. Stinka gab an Lindner, lief in den Rücken, der Glasgow-Deckung und schoß sofort aus der Drehung, als der Ball wieder in seine Laufrichtung kam. Die Eintracht durfte sich ihres Vorsprungs nicht lange erfreuen. Beim zweiten schottischen Gegenzug kurvte McMillan, der Träger eines berühmten Namens, in die rechte Strafraumecke, wo Weilbächers regelwidriger Eingriff zum zweiten Elfmeter führte. Mannschaftskapitän Caldow jagte den Strafschuß eiskalt ins Netz. Die Viertelstunde bis zum Wechsel brachte den Zuschauern einen Vorgeschmack auf die große zweite Halbzeit. Wie nahe war doch der zweite Treffer bei Schüssen von Pfaff (abgeprallt), Lindner (von Niven abgewehrt), Stinka (knapp über den Winkel), Kreß (vorbei), bei Meiers Kopfball übers Dach oder Steins Schuß, der eine Sonderbehandlung von Torwart Nivens Hände notwendig machte! Und dann kam jene Traum-Halbzeit, die man nie vergessen kann. Zunächst klopfte noch Scotts Schuß drohend an die Eintrachtlatte, und Loy mußte sich Murrays Kopfball angeln. Die günstigste Sekunde verträumte dann der freigespielte Meier, ehe Alfred Pfaff zum 2:1 einschoß. Wie beim ersten Tor war der Schütze wieder Ausgangs- und Endstation. Dazwischen lag Steins Schuß, in den sich Niven gestürzt hatte. Das 3:1 besorgte Meister Pfaff vier Minuten später mit einem seiner unnachahmlichen Freistöße aus zwanzig Metern, der zur Abwechslung einmal flach an der Mauer vorbei in die äußerste Ecke flog. Von der Begeisterung der Menge getragen, ließ die Eintracht nicht nach, sondern steigerte sich mitten in den Gegenbemühungen der Rangers. Auf dem Weg zum vierten Tor, einem Kopfball Lindners nach einem fein hereingehobenen Freistoß Weilbächers, lag allerdings Loys tolle Parade bei einem nicht minder tollen Schuß von Murray. Lindner schoß auch überlegt an Niven vorbei das fünfte Tor nach einer abgewogenen Steilvorlage von Pfaff, nachdem sich vorher Meier einige glänzende Gelegenheiten boten. Aber der Linksaußen knallte überhastet und unkonzentriert drauflos, wenn er freistand. Drei Minuten vor dem Ende kam auch Erwin Stein nach einem Loy-Abschlag zu seinem Tor. Er behauptete sich, im Mittelfeld energisch gegen Patterson, stürmte mit dem Ball an Niven vorbei und schoß aus spitzem Winkel, ehe Caldow heran war. Bert Merz
Der Kritiker, der gewohnt ist, eine Mannschaft nach ihren einzelnen Spielern zu würdigen, hat es nicht leicht, weil es über die Eintrachtmannschaft, je mehr Abstand man zu der Mittwochbegegnung gewinnt, eigentlich nur eine Gesamtkritik geben kann, die sich dazu noch recht unkritisch geben muß. Die Eintracht wuchs zu einer Einheit zusammen, die den einzelnen nicht mehr als gut oder schlecht erkennbar sein, sondern ihn einfach als Glied einer hochkomplizierten Maschine wirken ließ. Um deutlich auszudrücken, was ich meine: Jeder noch so hervorragende und in der Einzelleistung überlegene Weltklassespieler hätte, wenn er während der zweiten Halbzeit für einen Eintrachtspieler hereingenommen worden wäre, als Hemmschuh gewirkt. So ist das Eintrachtwunder ein Geheimnis seines Trainers Paul Oßwald, der an der Spitze jeder kritischen Würdigung stehen sollte. Oßwald hat zweifellos hervorragendes Spieler-„Material" übernommen, als er zur Eintracht überwechselte, aber er hat sie so zu einer Einheit geformt, daß der einzelne Eintrachtspieler in der Nationalmannschaft wahrscheinlich nur Durchschnitt bedeuten würde; um auf die Nationalmannschaft wirklich befruchtend zu wirken, müßten ganze Mannschaftsteile geschlossen übernommen werden. Man hat das Eintrachtspiel modern genannt und diesen Eindruck hinterließen vor allem die Stürmer, in erster Linie Pfaff und Lindner. Die Ballsicherheit und das Selbstbewußtsein Pfaffs, der mit seinen Gegnern wirklich nur spielte, trug entscheidend zu dem Spielausgang bei, wie auch die beiden Tore Pfaffs vom 1:1 zum 3:1 die eigentliche Wendung bedeuteten. Dieses Die-Gassen-Oeffnen gelang Pfaff in hervorragendem Maße, aber auch Lindner steigerte sich immer mehr und spielte mit dem Renner Kreß in einer Weise zusammen, die den Gegner einfach zusammenbrechen ließ. Kreß war, auch ohne ein Tor zu schießen, der dritte Mann, auf den es ankam. Der Ausbund an Schnelligkeit und des Einsatzes der mit ganz reellen Mitteln den Gegenspieler immer zum Wettlauf aufforderte und hinter sich ließ — dieser Kreß schlug Breschen in die schottische Abwehr, und dazu kam dann noch Erwin Stein; auch er war in Ueberform, zumal er in dem kopfball- und stellungsgewandten Stopper Patterson einen der ungemütlichsten Kontraspieler hatte. Kraft und Fleiß ließen ihn gut bestehen, und er sorgte dafür, daß Patterson mit ihm beschäftigt blieb. Es fragt sich, ob dieser Eintrachtsturm noch zu bessern wäre. Wahrscheinlich hat er mit Meier am linken Flügel doch einen etwas schwachen Punkt. Es gab zwar kaum einen Mann, der soviel rackerte wie Meier und der infolgedessen die gegnerische Abwehr in schreckliche Verwirrung stürzte — aber auf der anderen Seite verschleuderte er seine herausgespielten Chancen wie ein übermütiger Millionär der die Geldscheine auf die Straße wirft. Er säbelte nach seinen Flankenläufen immer wieder den Ball steil über die Torlatte, statt vor allem das Flanken, das Weiterspielen im Auge zu behalten. Nummer 1 der Frankfurter Deckung war diesmal, so scheint mir, Egon Loy als Torwart Mit Instinkthandlungen wehrte er die phantastischsten Schüsse, die jeder schon im Netz sah, sicher heraus oder zur Ecke, und auch im Herauslaufen machte ihm niemand etwas vor. Als Caldow den Elfmeterball schoß, machte Loy vielleicht einen Fehler. Er bewegte sich in seine rechte Torecke, ehe dieser schoß, so daß dieser kaltblütig die andere Ecke treffen konnte. Vielleicht hatte Caldow ihn genarrt. Wie im Sturm, so gilt auch in der Deckung das Wort von der Einheit Anfangs mußte sich Höfer ein paarmal strecken, um seinen zielbewußten Gegner kennenzulernen, und Lutz verließ sich manchmal auf den Wirbel seiner Beine (sein Gegner war immerhin fast gleich schnell), aber je länger das Spiel dauerte, tun so besser hatten die beiden Frankfurter das gefährliche Flügelpaar Glasgows unter Kontrolle. Eines der Einzelwunder, die sich hier vollzogen, war die große Stopperleistung Eigenbrodts, der die Uebersicht behielt und selbst in den Spielaufbau eingriff, ohne daß ihn der kraftvolle Murray aus dem Konzept brachte. Alles mußte erkämpft werden, so auch die Mittelfeldposition der beiden Frankfurter Außenläufer. Stinka war in der ersten halben Stunde lange nicht so gut wie an seinen großen Tagen, hatte sogar Schrecksekunden, aber für ihn hatte Fortuna ein köstliches Geschenk bereit. Er erzielte das Führungstor mit einem herrlich unter die Latte placierten Flugball. Das weckte seine Lebensgeister, und im Nu hatte er alle Komplexe abgestreift, wurde einer der großen Spielgestalter, der treue Helfer und Hintermann Pfaffs. Ab sofort war die Schaltstation hier doppelt besetzt. Weilbächer ist ein ganz anderer Typ, aber diese Mannschaft der „Fußballpoeten" braucht auch die Prosaschreiber. Weilbächer, das bedeutete Kraft, Härte, Willen, und wie sich ein Weilbächer mit dem leichten Spiel eines Lindner verbünden kann, das zeigte die zweite Halbzeit. Fast kann man ins Schwärmen geraten, wenn man all dieses zu schildern versucht. Deshalb laßt uns nüchtern bleiben. Auch Alltage werden dem großen Fußballfeiertag folgen. Aber eines bleibt gewiß: Nur eine Mannschaft von internationaler Spitzenklasse konnte diese Leistung erreichen, und niemand hat sich ihr entziehen können. Erich Wick Das Echo Stimmen nach dem Spiel Emilio Oesterreicher, technischer Berater von Real Madrid: „Die Eintracht hat vor allem in der zweiten Halbzeit ein herrliches Spiel geliefert und schnellen, modernsten Fußball gezeigt. Es war die schönste zweite Halbzeit, die ich in diesem Jahr im Europa-Pokalspielen gesehen habe, und ich habe alle gesehen. Gegen diese entfesselte Eintracht-Elf wird es Spanien in einem eventuellen Endspiel sehr schwer haben." Bundestrainer Herberger: „So gut habe ich die Eintracht noch nie spielen sehen — in der Abwehr ausgezeichnet, im Mittelfeld sehr beweglich und im Angriff so stark, daß die Tore einfach fallen mußten. Entscheidend war wohl die innere Einstellung jedes Eintracht-Spielers, über volle 90 Minuten größten Kampfeseifer zu zeigen. Was die Eintracht heute abend geleistet hat, das werden die Spieler erst morgen früh am eigenen Körper verspüren." Paul Oßwald, Trainer der Frankfurter Eintracht: „Ich war heute mit meiner Mannschaft und mit jedem einzelnen Spieler hundertprozentig zufrieden." John F. Wilson, Präsident der Glasgow Rangers: „Die Frankfurter Eintracht hat nicht nur ein sehr gutes Einzel-, sondern auch vor allem ein sehr gutes Mannschaftsspiel gezeigt." Frankfurter Rundschau: „Durch die Aufopferung und die Schnelligkeit sowie durch einen geradezu überragenden Schiedsrichter (Lindberg, Schweden) wurde das Spiel ein Ereignis, wie man es in Jahren einmal sieht. Die Eintracht ist nach diesem Treffen so etwas wie die Wunderelf des Europapokals geworden." News Chronicle: „Die schwärzeste Nacht in der stolzen Geschichte der Glasgow Rangers. Sie wurden in der zweiten Halbzeit gedemütigt." Stimmgewaltige Kollegen Gedanken auf der Pressetribüne Die Pressetribüne war der Bedeutung dieses Spieles angepaßt: sie war international besetzt wie noch nie zuvor. Links von mir saß ein Kollege aus Glasgow, links hinter mir Monsieur Gabriel Hanot aus Paris, einer der weitgereistesten Sportjournalisten der Welt. Rechts hinter mir brüllte ein Schotte von der dreißigsten Minute an seinen Bericht mit viel „okeh?", „allright?" und „Hallo Pieter" ins Telefon. Der Pieter am anderen Ende der Leitung mußte angesichts der ansteigenden Torfolge an Schwerhörigkeit leiden, denn je länger das Spiel dauerte, desto lauter brüllte der Bedauernswerte, und es war schon abzusehen, wann unser schottischer Kollege auch ohne Telefon in Glasgow zu verstehen war. * Gut, daß rechts neben mir Bert Merz auf der Schreibmaschine klapperte, Erich Wick seine stenographischen Notizen machte und vor mir Otto Höpfner saß, ich hätte sonst geglaubt, irgendwo im Ausland zu sitzen. Uebrigens, Otto Höpfner erhielt nach dem 2:1 seine frische Gesichtsfarbe wieder, die ihm der verschossene Elfmeter jäh geraubt hatte. „Des rescht mich mehr uff, als wenn ich im Fernsehn e Sendung mache muß", stöhnte der Gute. Mein schottischer Kollege links nahm alles mit stoischer Gelassenheit, auch Stinkas Führungsbombe. Doch die Gelassenheit war nur äußerlich, denn nach dem Elfmeterausgleich entrang sich ein tiefes „Uff" aus seiner Brust und der Kommentar: „1:1 ist nicht so schlimm wie 1:0". Die Kollegen aus Schottland waren alle vom Eintrachtspiel begeistert. Links neben mir (schon zehn Minuten vor der Pause!): „Eintracht ist eine Klasse besser als Rangers." Rechts hinter mir (nach dem 3:1 mit Gebrüll ins Telefon): „Eintracht ist jetzt so selbstbewußt, daß sie phantasievollen kontinentalen Fußball zeigt, Rangers sind in tödlicher Gefahr." * Da hatten auch die vier Glasgower Fanatiker nichts genutzt, die vor Spielbeginn ohne Ball Scheintore auf dem Rasen geschossen hatten — alle unter die Latte, unter der nach der Pause fünfmal der wirkliche Ball landete. Auch das Transparent „Rangers For Ever" hätte im Gepäck bleiben können, und als um 19.47 Uhr der Fahnenträger mit der britischen Flagge von den Schultern seiner Kumpanen stürzte, hätte jeder römische Feldherr angesichts eines so bösen Omens die Schlacht gar nicht angefangen * Als ich fünf Minuten vor dem Abpfiff die Tribünentreppe hinabeilte, dröhnte immer noch das „Hallo Pieter". Der Pieter schien inzwischen stocktaub geworden zu sein — oder hatte er wegen Landestrauer den Aufnahmedienst quittiert! Hoffen wir es zugunsten des stimmgewaltigen Kollegen nicht, denn wer soo brüllen kann, verdient es, daß sein Bericht am nächsten Tag in der Zeitung steht. Horst Kickhefel (aus 'Der neue Sport' vom 19.04.1960)
180 Minuten Eintrachtspiel Wie schön, daß auch die Aufzeichnung nicht nur 77.000 Zuschauer das einmalige Europa-Cupspiel zwischen der Eintracht und den Glasgow Rangers sehen konnten, sondern Millionen in den Genuß dieser neunzig Minuten kamen. Wer diese Begegnung nicht gesehen hat — sei es im Stadion, sei es am Bildschirm — hat viel versäumt. * Mancher sah sich beides an, zum Beispiel der Schreiber dieses Kommentars, der fünf Minuten vor dem Schlußpfiff die Tribüne verließ und den sechsten Torschrei hörte, als er gerade ein Taxi bestieg. War doch hier die einmalige Chance, das Miterleben im Stadion mit dem Erleben am Bildschirm zu koppeln. Um ganz ehrlich zu sein, selbst diese großartige Uebertragung zeigte, daß der Bildschirm das Miterleben im Stadion nicht ersetzen kann. Es fehlte das Fluidum der neben einem sitzenden Zuschauer, die schemenhaften Lichter der über das Stadion einfliegenden Maschinen und die Farblinien der Raketen. Es fehlte die Freude und Enttäuschung auf den Gesichtern der Zuschauer. * Und großartig war diese Uebertragung schon. Mit dem Blickwinkel von oben hatte man, im Gegensatz bei Pirmasens—Kaiserslautern, immer beste Uebersicht, zumal man bemüht war, auf Nahaufnahmen zu verzichten und stets den größeren Raum einzufangen. Dadurch sind die Spieler zwar etwas kleiner, aber der Zuschauer hat die Möglichkeit, die Spielzüge besser zu verfolgen und wird nicht durch laufende Wechsel der Perspektiven verwirrt. * Man genoß die Uebertragung wie einen guten Film, den man sich zum zweiten Mal ansieht, und man genoß die ruhigen Kommentare Rudi Michels. „Ich glaube, da ist noch eine Steigerung drin", sagte er nach dem 2:1. Rudi Michel sprach ja seinen Kommentar während des Spiels, nicht nachher bei der Sendung — da merkte man den ehemals aktiven Fußballer, der so etwas spürt, wenn sich eine Mannschaft steigert. „Die Rangers müssen aufpassen, daß nicht das 4:1 fällt" — da köpfte es Lindner schon ein, und Rudi Michel meinte bescheiden, er sei keineswegs mit den Spielern durch Funk verbunden. * Wie oft kreuzen sich die Interessen von Sport und Fernsehen, und immer muß ein Kompromiß gefunden werden. Gewiß, Direktübertragungen halten viele Zuschauer zurück, weil sie noch nicht erkannt haben, daß das Dabeisein viel schöner ist, als zu Hause vor dem Bildschirm zu sitzen. Sport und Fernsehen müssen sich zusammenraufen, im Interesse der Millionen Sportfreunde, die nicht das Geld und die Zeit haben, um ein Ereignis, wie es dieses Spiel war, mitzuerleben. Horst Kickhefel
Eintracht—Rangers im Frankfurter Stadion aus der Sicht des Zuschauers! Aus Wien erreicht uns ein Spielbericht, den ein fußballbegeisterter Frankfurter an seinen Freund in der Donaustadt schrieb. Wir bringen diesen Bericht ungekürzt, weil wir annehmen, daß viele tausend Frankfurter ähnlich dachten. Lieber Franz! Nach der gestrigen Nachtschlacht, die ich für diesen Brief unbedingt abwarten wollte, habe ich mich heute morgen nach einem Tiefschlaf ins Café an der Ecke gesetzt, um Dir Bericht zu erstatten. Du kennst meine Nervosität „uffm Platz", aber mit dem Abstand einer Nacht will ich ganz objektiv sein. Die 800 km-Reise, die Du hättest machen müssen, wäre nicht umsonst gewesen. Es war eines der ganz großen Spiele, die man nie vergessen wird. Eins ist sicher, - daß ich nämlich noch niemals nach einem Spiel so fertig war, als ob ich als Verteidiger, Läufer oder Stürmer selbst mitgemischt hätte. Mit seiner Bedeutung und seinem phantastischen Rahmen übertraf es noch das Endspiel in Berlin. Das herrliche Waldstadion an einem warmen Frühlingsabend zum Oberläufen voll. Das Tribünengebäude lag wie ein Ozeandampfer vor dem Auslaufen im festlichen Licht. Die riesigen Lichtmasten machten das Stadion zugleich zu einem gewaltigen Festsaal, den 80.000 Menschen mit Stimmung und eine Ami-Kapelle mit flotter Musik füllten. Die Eintracht-Reserve eröffnete zunächst mit einem guten Spiel (Schämer dabei sehr gut) und schoß 6 feine Tore. Eine Viertelstunde vor Spielbeginn - das Vorspiel war aus - kochte dann das Stadion wie ein Kessel Wäsche oder besser noch wie der Krater eines Vulkans. Rauchschwaden, Raketen, Leuchtkugeln, bengalisches Feuer, wogende Massen und schließlich der große Ausbruch der Stimmenorkane machten die Illusion fast zur gespenstischen Wirklichkeit - ein surrealistisches Bild. Der Lautsprecher sprach von kleinen Waldbränden und beschwor zahlreiche Menschen, die in die Lichtmasten gestiegen waren, wegen Lebensgefahr herunterzukommen. Vergeblich, - nun stiegen noch mehr gen Himmel. In dieser Viertelstunde nun führten an die hundert Schotten in Uniform und Zivil in fast südländischer Manier Tänze mit Fahnen und Transparenten vor, daß man an den Fasching erinnert wurde. Immer wieder umkreisten sie jubelnd und tanzend die Laufbahn und stürmten die Tore, - ohne Ball allerdings. Allgemeine Heiterkeit, als der Fahnenträger von den Schultern purzelte. Dann endlich war es so weit. Das Einlaufen der Mannschaften beendet die Spannung, die man innerlich all die Tage und Wochen vorher angesammelt hat. Die Gedanken, die abends vor dem Einschlafen und morgens beim Aufstehen immer um dies Spiel kreisten, haben jetzt endlich den festen Punkt - nämlich die Eintracht-Mannschaft, die den prächtigen Rasen wie eine riesige Bühne betritt. Dutzende von Reportern konterfeien Kapitäne und Schiedsrichter bei der Platzwahl. Die schottigen Schlachtenbummler beziehen Stellung hinter dem Eintrachttor, so als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß dort die Entscheidung fällt. Die Ouvertüre war vorbei, jetzt wurde es Ernst. Die ersten paar Minuten schienen die Rangers zu regieren. Einige technische Tricks waren sehenswert. Prächtig wie die Außen sich einsetzten, schneller Antritt von der Außenlinie in direktem Zug aufs Tor, schossen dann selbst oder gaben zum 11-Meter-Punkt zurück, von wo auch prompt 2 Schüsse aufs Eintrachttor zischten. Aber dann wußte man Bescheid — bei Höfer gab's keinen Stich mehr, während Lutz mit Scott zunächst noch einige Mühe hatte, der in seiner Art ein wenig Richard Kreß ähnelt, ohne ihn allerdings an Wirkung zu erreichen. Sehr bald schon begann sich die Eintracht durchzusetzen, — und das mit einem Fußballzauber gegen einen cleveren Gegner, der trocken, hart und moralisch unerschütterlich spielte, technisch gekonnt, — es will, schon was heißen, wenn die Eintracht diesem Gegner langsam aber sicher das Heft aus der Hand wand. Die Schotten konterten eiskalt und Loy mußte wie sein Gegenüber Niven wahre Panthersprünge zeigen, um Einschläge zu verhüten. Niven wehrte eine 15-Meter-Bombe mit der Faust ab und [mußte] prompt behandelt werden. Was dieser Mann an Schwerarbeit geleistet hat, das verdient Bewunderung und Bedauern zugleich. Mehrmals mußte sein Verteidiger auf der Linie aushelfen. Schon bei der Halbzeit hätte Eintracht führen müssen und das nicht nur wegen des verschossenen Elfmeters, den Richard Kreß zwar mit genügend Nervenstärke aber mit wenig Geschick prompt daneben schoß. Es gibt Elfmeter, bei deren Verschießen auch der Zuschauer spürt, — das kommt nicht wieder! Jetzt kommt Sand ins Getriebe. Merkwürdig, — wohl niemand hatte das Gefühl, daß eine nie wiederkehrende Gelegenheit verpaßt war. Zu sicher lief das Spiel der Eintracht an diesem Tage. Niemand hätte sich gewundert, wenn die Eintracht bei Halbzeit 3:1 geführt hätte. Als scheinbar die Experten kniffen, bewies Richard Mut und faßte sich verzweifelt an den Kopf! Sehr fatal! Der prächtige faire Stinka verwandelte eine im Direktspiel sauber herausgearbeitete Vorlage und sorgte für das erste Tor des Tages. Ein harter Einsatz gerade im Strafraum, so eben an der Grenze zum Foulspiel, reichte zum Elfmeter für die Schotten. Es war ein ähnliches Vergehen wie das an Kreß, aber der Richard war im Alleingang, aussichtsreich, - niemand sonst im Strafraum. Die Schotten dagegen waren kaum um eine aussichtsreiche Chance gebracht worden. Es war Ansichtssache, aber der ausgezeichnete Referee schien mit dem englischen Fußball sehr vertraut. Für meinen Geschmack ließ er „gestrecktes Bein" zu oft durchgehen. Die Schotten waren hart aber fairer als die Wiener, natürlich auch weit besser. Warum die Wiener in Frankfurt nicht 6:1 verloren haben? Erstens hatten sie mehr Glück und 2. hatte Alfreds Spiellaune damals einen Knacks bekommen. Gestern aber beflügelte ihn sein einmaliger, phantastischer Strafstoß zum 3:1 etwa 15 Minuten nach der Halbzeit. Er spielte mit einem Einfallsreichtum und mit Tricks am laufenden Band, daß die Schotten für 10 Minuten nach Strich und Faden ins Schwimmen gerieten, ohne daß sie aber hilflos wirkten. Eine gewisse Ruhe strömten sie immer aus, auch wenn viere am Boden lagen und der Ball im Netz zappelte. Von jenem Strafstoß wird man noch lange sprechen. Für Alfred scheint es manchmal einfacher zu sein, den Ball aus 18 oder 20 Metern um oder über eine Mauer von 8 Spielern ins Tor zu bringen als vom Elfmeterpunkt aus, wenn niemand als der arme Torwart stören kann. Diesmal hatte der Kapitän der Schotten seine Mauer noch vom Schußpunkt aus einvisiert. Diesmal gab es keine Lücke. Alfred leistete eine fast wissenschaftliche Arbeit und drehte den Ball mit Effet um die Mauer. Wer von Zufall spricht, hat Alfreds zahlreiche Traumschüsse aus ähnlichen Situationen noch nicht gesehen! Ein weiteres Tor fiel nach einer Kanonade, als 4 oder fünf Bombenschüsse aus allen Ecken des schottischen Tores geschlagen oder geköpft wurden, bis schließlich wiederum Alfred Pfaff klug einknallte. Minutenlang ging es ähnlich weiter: Angriffe, Ecken, Freistöße und dabei gelang Dieter Lindner ein verdientes Kopfballtor. Der Zuschauerkrater hatte seinen größten Ausbruch! Sie spielten wie die Götter und es gelang plötzlich alles. Fliegende Kombinationen brandeten aufs schottische Tor, wobei die königlichen Schotten mit fliegenden Fahnen untergingen. Ihre Schlachtenbummler hatten zu diesem Zeitpunkt offenbar schon die Flucht ergriffen: vom Erdboden verschluckt, vom Krater ausgespien, in die Wälder geflüchtet, - den Schrecken im Nacken! Aber noch leistete die schottische Mannschaft verbissen Widerstand. Sie konnten für kurze Zeit verteiltes Spiel erzwingen und sogar gefährlich durchbrechen. Aber Loy war nicht mehr zu schlagen und einmal half ihm die Latte. Dann kam wieder die Eintracht - einsatzfreudig - schneller am Ball - Direktspiel. Und wieder schlug es ein — Lindner! Die Zuschauerkehlen, waren schon matter als die Lungen der entfesselten Eintracht-Mannschaft. Dann bekam Erwin Stein wie damals in Wien eine weite Vorlage, schüttelte den Mittelläufer ab, umspielte auch den Torwart, der ihm entgegenlief und aus spitzem Winkel hart bedrängt schoß er zum 6:1 ein! Gefaßt ertrugen die Schotten das Todesurteil. Dann kam mit dem Schlußpfiff die Erlösung für die tapferen Rangers und zugleich die Bestätigung eines Eintracht-Triumphes ohnegleichen. Wie ein Bienenschwarm im Aufbruch bewegte es sich im Stadion, Massen liefen auf das Spielfeld und unter den Klängen des Eintracht-Liedes, mit Raketen und Fahnen verließ ein glücklicher, menschlicher Ameisenhaufen die Stätte des großen, unvergeßlichen Spiels. Den spanischen Spionen war die Reise sicher aufschlußreich. Sie werden nicht schlecht gestaunt haben. Und diesmal muß auch Sepp Herberger nur Positives berichten können. Es wäre kaum zu fassen, wenn er niemanden gesehen hätte, der reif für die Nationalmannschaff ist. Vielleicht schickt er gar die komplette Eintracht nach Chile! In diesem Sinne herzliche Grüße Dein Freund Heinz (aus: "Eintracht-Hefte" , Mai 1960) |